Ehrismann, Otfrid: Tradition und Innovation
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Zitation
Ehrismann, Otfrid: Tradition und Innovation. Zu einigen Novellen des Stricker. In: Spiewok, Wolfgang (Hg.): Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung. Greifswald 1986, S. 179-192
Beschreibung
Otfried Ehrismann greift zu dem Thema "Tradition und Innovation" fünf Stücke des Strickers heraus, welche in der Forschung als innovative zeitgenössische Dichtung betrachtet wurden, um dieser Annahme teilweise zu widersprechen.
Inhalt
- Die reiche Stadt (Der Stricker) (179-180)
- Hier berichtet das Werk von einem gestörten ordo, ohne Partei für eine der Gruppen innerhalb des ordo zu ergreifen. Der Stricker fordert also nicht die Zerstörung dieses ordo, sondern die Wiederhertslleung desselben. Das Unrecht könne sich nur ausbreiten, weil alle soziale Gruppen innerhalb des vom Stricker gezeichneten Panoramas versagen. Der Versuch hier eine Forderung nach Solidarität gegen den bösen Herren herauszulesen, würde das Panorama verengen.
- Der Turse (Der Stricker) (180-181)
- Auch hier liegt es nahe, die Solidarität wider den Herren zum Thema des Mæres zu machen. Allerdings ergreift auch hier die Erzählung weder für die eine noch für die andere Gruppe Partei. Auch die Moralisation widerspricht dieser Interpretation: sie kritisiert die Geschädigten heftiger als den Schädiger. Folglich gibt es nicht die gute Gruppe wider den bösen Herren, sondern allein die schlechte Gruppe, die dem Herren erst eine Störung des ordo möglich macht und sich damit ebenso schuldig macht wie der Herr.
- Der junge Ratgeber (Der Stricker) (182-183)
- Die Geschichte handelt vom Recht und auch hier wird der Aufbau der Gesellschaft nicht in Frage gestellt. Der Stricker behandelt hier die potentielle Schwäche der Herrschenden als Überheblichkeit und Unfähigkeit zu gerechtem Richten und er besteht auch auf das Recht des Volkes zum Widerstand. Das mære verteidigt das Rechtssystem und der Held der Geschichte ist der im Dienste des ordo agierende Ratgeber des Königs.
- Der Richter und der Teufel (Der Stricker)(183-185)
- Das mære ist nicht als Plädoyer für die Armen und Entrechteten zu verstehen, sondern alleinig für das Recht. Durch die selbstverschuldete Auffahrt des Richters (auffälligerweise an dem Ort – der Mitte des Markplatzes –, an dem der Richter sonst Recht spricht) wird das Recht wieder hergestellt. Der Teufel ist hier nicht Herr über sich selbst, sondern unfreiwilliger Vollstrecker des Willen Gottes, indem er die Menschheit von seinesgleichen erlöst. Eine Interpretation ohne diese christliche Konnotation, bspw. unter Fokussierung 'kapitalistischer' Motive, wird dem mære nicht gerecht - insbesondere, da dann die Moralisation befremdlich wirkt.
- Die Gäuhühner (Der Stricker)(185-187)
- F. Pfeiffer hat als erster die Hühner zu revolutionären Bauern erhoben. Er und seine Nachfolger übersahen jedoch, dass die Stellung des Landesherren als oberste Rechtsinstanz stets unangefochten blieb und die Beseitigung der Festungen in seiner Verantwortung ruht. Er ist es, den das Gäu als Erdbeben spürt und es sind seine Sendboten (die Gäuhühner), die in seinem Auftrag das Recht mit Blitz und Donner wieder herstellen. In der Novelle des Strickers lässt sich keine Sympathie für revolutionäre Bewegungen ausmachen. So erinnert das Zerstörungswerk der Hühner an mittelalterliche Gerichtsverfahren und der apokalyptische Habitus der Hühner betont die Göttlichkeit der Rechtssphäre. Es liegt also nahe die Hühner als Allegorie von Weisheit und göttlicher Macht zu interpretieren und diese damit als göttliche Sendboten und Herren von Apokalypse und Recht zu verstehen.
- Es lässt sich also nicht ohne weiteres sagen, dass sich der Verdacht der sozialen Innovation bestätigt hätte, aber auch nicht, dass mit der traditionell geschützten Gruppe des Adels schonend und gimpflich umgegangen worden wäre. Das Ziel des Erzählers ist es, an der schlechte Praxis zu zeigen, dass es positiv ist, den einstigen Zustandes des ordo wieder herzustellen. Es ist allerdings voreilig, die Restitution von ordo ausschließlich einem konservativem Denken unterzuordnen. Das Verlangen nach Recht ist ambivalent: Tradition und Innovation in einem. Durch das Einbringen einer neuen Wirklichkeit in die Fiktion, in der auch Städter und Dorfbewohner positiv literaturfähig sind, verleiht der Stricker dem fiktionalen Erzählen neue Impulse. Durch seine Beharrlichkeit auf das Recht, wird er partiell innovativ, indem er Herrschaftsverhältnisse bewusst macht und von allen Gruppen der Gesellschaft verlangt, diese gemäß des ordo zu respektieren. Eine Literaturgeschichte des Späten Mittelalters wird das Begriffspaar Tradition und Innovation relativieren müssen: Konsequentes Festhalten an einer fingierten Tradition kann also Innovation sein und wenigstens für eine vom Dichter nicht abschätzbare Zukunft innovatives Potential bergen.