Scheidsamen (B55): Unterschied zwischen den Versionen
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===A Allegorisches Rätsel (1–37): === | |||
Der Sprecher beginnt in paradoxen und verrätselten | |||
Ausdrücken seine Geschichte zu erzählen: ›Ich und ein Ich‹ waren eins (1), waren | |||
eine Zwei und zwei Eins, und zwischen die Zwei ging nichts dazwischen. Auch wenn | |||
sie zwei Namen hatten und verschieden aussahen (?), gab es doch keinen Unterschied: | |||
Ihnen einen und ihnen beiden dienten ein ›Nein‹, ein ›Ja‹, ein ›So‹, ein ›So nicht‹, | |||
ein ›Hier‹, ein ›Dort‹, eine ›Liebe‹, ein ›Leid‹, ein ›Zweifel‹, eine ›Zuversicht‹, | |||
ein ›Glück‹, ein ›Unglück‹ usw. – ›Frau Wandelmut‹ bemerkte dies und sandte | |||
ihren ›Scheidsamen‹ (22: ''schaid samen'') aus zum Leidwesen des Sprechers (24: ''Sie wollte Mich selben von mir schaiden''). Es dauerte nicht lange, bis der Samen Wucher | |||
brachte und aus der Einheit ''Min sunder ain min ander ich'' (33) eine Zweiheit wurde: | |||
''Daz zway wurdent von ainem'' (35). | |||
===B Auflösung (38–101): === | |||
Falls sich jemand wundere, warum er so rede, und den Sinn | |||
verstehen wolle, so höre er ihn an: ''Das Ain ich sei er selbst gewesen und das ander ich eine Frau''. Sie hätten sich einander befreundet (44: ''gesellet'') und einen Willen, ein | |||
Herz, ein Denken gehabt. Denn sein Herz sei bei ihr und ihres beim ihm gewesen | |||
(Herzenstausch). – Als die leidige Unbeständigkeit (58: ''Die lait vnstäti'') dieses Band | |||
der Treue bemerkt habe, sei sie mit ihren Räten hinzugetreten und habe versucht, | |||
mit ihrer bösen Kunst die Freundschaft zu zerstören. Sie habe so lange mit ihrem | |||
Hass ›gewuchert‹, bis die Geliebte alles von ihm genommen hätte, was das Band | |||
der Treue garantiert habe: Gnade, Herz, Treue und Leben. Aus seinem ›Ein‹ sei so | |||
ein ›Zwei‹ geworden: sein ›Ja‹ ihr ›Nein‹, sein ›Übel‹ ihr ›Gut‹, seine Trauer ihre | |||
Freude usw. Alles sei ins Gegenteil verkehrt worden. Er sei ein Dorn in ihren Augen | |||
geworden, sein kalter Name habe ihr durch die Ohren gebrannt; wenn sie eine Begegnung mit ihm nicht habe vermeiden können, sei sie bleich geworden. Niemand | |||
werde so sehr gehasst wie er von ihr. | |||
===C Klage über Liebesleid (102–150): === | |||
Daher könne er diese Geschichte nicht verschweigen, er müsse sie herausschreien 100.000 Mal am Tag: ihre Untreue, ihren | |||
schlechten Lohn. Der Sprecher bittet nun in direkter Anrede Frauen und Männer | |||
(vielleicht – verderbte – Anspielung auf den Beginn von Walthers ›Preislied‹ in 111/ | |||
Mü11 105: ''Ich rainu wib er werder man''), die schon einmal Leid von Liebe erfahren | |||
hätten, um Rat, ob er sein Herz auch von ihr nehmen oder beständig bei ihr bleiben | |||
solle. Beides wäre fatal: Von ihr zu scheiden bedeutete den Tod, und endlos ihren | |||
Hass zu ertragen, wäre eine große Not. (Die folgenden Verse 120–126 sind in allen | |||
Hss. nicht recht verständlich.) Wenn die anderen ihm raten würden, von ihr abzulassen, könnte er das kaum leisten, denn er sei völlig von ihr abhängig: ''Nu bin ich ze ir verwigelt | Verbort vnd verrickelt'' (133f.; fehlt in Mü11/Mü19). Außerdem könne man | |||
in weltlichen Angelegenheiten keine Beständigkeit erwarten (Kontingenz); kaum jemand könne seine Liebe den ganzen Tag hindurch vor Leid bewahren. Man brauche | |||
in diesen weltlichen Dingen Glück (Mü11/Mü19 130: Beständigkeit!). Relativierendes Sprichwort: ›Hilfe des Glücks und Gruß der Fortuna haben oft unsteten Fuß‹ | |||
(Mü19 131f.: ''Gelückes hilf fortünen grüs | Dick habentt vnstetten fües''; fehlt Ka3). | |||
===D Herzenstausch und -rücktausch (151–186):=== | |||
Der Sprecher referiert die Meinung, | |||
dass ein Tausch der Herzen eigentlich unmöglich sei: Man könne ohne das eigene | |||
Herz nicht weiterleben. Doch habe er einen solchen Wechsel selbst erlebt: Er habe | |||
sein Herz einer Frau gegeben, und sie ihres ihm. Das sei so lange gegangen, bis es sie | |||
verdrossen habe: Sein Herz habe sie für zu groß gehalten. Darüber, dass auf diese | |||
Weise Treue mit Untreue gelohnt worden sei, wolle er schweigen. Nun sei der Wechsel rückgängig gemacht worden (nur in Ka3): Ihr Herz sei zu ihr zurückgekehrt und | |||
er habe das seine wieder an sich genommen (179f.: ''Sust sol jr hertz jr sin | Da by so sy min hertze min''). So lange er lebe, solle sie sein Herz nicht mehr bekommen. | |||
([[Klingner, Jacob/Lieb, Ludger: Handbuch Minnereden]], S. 100f.) | |||
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Aktuelle Version vom 11. September 2021, 22:50 Uhr
Scheidsamen (B55) | |
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AutorIn | Anon. |
Entstehungszeit | Vor 1348 |
Entstehungsort | |
AuftraggeberIn | |
Überlieferung | Karlsruhe, Landesbibliothek: Hs. Donaueschingen 104, 98va-99va München, Bayerische Staatsbibliothek: Cgm 717, 116r-117v München, Bayerische Staatsbibliothek: Cgm 5919, 198v-202r |
Ausgaben | |
Übersetzungen | |
Forschung | Klingner, Jacob: Scheidsamen; Klingner, Jacob/Lieb, Ludger: Handbuch Minnereden, S. 99-101 |
Inhalt
A Allegorisches Rätsel (1–37):
Der Sprecher beginnt in paradoxen und verrätselten Ausdrücken seine Geschichte zu erzählen: ›Ich und ein Ich‹ waren eins (1), waren eine Zwei und zwei Eins, und zwischen die Zwei ging nichts dazwischen. Auch wenn sie zwei Namen hatten und verschieden aussahen (?), gab es doch keinen Unterschied: Ihnen einen und ihnen beiden dienten ein ›Nein‹, ein ›Ja‹, ein ›So‹, ein ›So nicht‹, ein ›Hier‹, ein ›Dort‹, eine ›Liebe‹, ein ›Leid‹, ein ›Zweifel‹, eine ›Zuversicht‹, ein ›Glück‹, ein ›Unglück‹ usw. – ›Frau Wandelmut‹ bemerkte dies und sandte ihren ›Scheidsamen‹ (22: schaid samen) aus zum Leidwesen des Sprechers (24: Sie wollte Mich selben von mir schaiden). Es dauerte nicht lange, bis der Samen Wucher brachte und aus der Einheit Min sunder ain min ander ich (33) eine Zweiheit wurde: Daz zway wurdent von ainem (35).
B Auflösung (38–101):
Falls sich jemand wundere, warum er so rede, und den Sinn verstehen wolle, so höre er ihn an: Das Ain ich sei er selbst gewesen und das ander ich eine Frau. Sie hätten sich einander befreundet (44: gesellet) und einen Willen, ein Herz, ein Denken gehabt. Denn sein Herz sei bei ihr und ihres beim ihm gewesen (Herzenstausch). – Als die leidige Unbeständigkeit (58: Die lait vnstäti) dieses Band der Treue bemerkt habe, sei sie mit ihren Räten hinzugetreten und habe versucht, mit ihrer bösen Kunst die Freundschaft zu zerstören. Sie habe so lange mit ihrem Hass ›gewuchert‹, bis die Geliebte alles von ihm genommen hätte, was das Band der Treue garantiert habe: Gnade, Herz, Treue und Leben. Aus seinem ›Ein‹ sei so ein ›Zwei‹ geworden: sein ›Ja‹ ihr ›Nein‹, sein ›Übel‹ ihr ›Gut‹, seine Trauer ihre Freude usw. Alles sei ins Gegenteil verkehrt worden. Er sei ein Dorn in ihren Augen geworden, sein kalter Name habe ihr durch die Ohren gebrannt; wenn sie eine Begegnung mit ihm nicht habe vermeiden können, sei sie bleich geworden. Niemand werde so sehr gehasst wie er von ihr.
C Klage über Liebesleid (102–150):
Daher könne er diese Geschichte nicht verschweigen, er müsse sie herausschreien 100.000 Mal am Tag: ihre Untreue, ihren schlechten Lohn. Der Sprecher bittet nun in direkter Anrede Frauen und Männer (vielleicht – verderbte – Anspielung auf den Beginn von Walthers ›Preislied‹ in 111/ Mü11 105: Ich rainu wib er werder man), die schon einmal Leid von Liebe erfahren hätten, um Rat, ob er sein Herz auch von ihr nehmen oder beständig bei ihr bleiben solle. Beides wäre fatal: Von ihr zu scheiden bedeutete den Tod, und endlos ihren Hass zu ertragen, wäre eine große Not. (Die folgenden Verse 120–126 sind in allen Hss. nicht recht verständlich.) Wenn die anderen ihm raten würden, von ihr abzulassen, könnte er das kaum leisten, denn er sei völlig von ihr abhängig: Nu bin ich ze ir verwigelt | Verbort vnd verrickelt (133f.; fehlt in Mü11/Mü19). Außerdem könne man in weltlichen Angelegenheiten keine Beständigkeit erwarten (Kontingenz); kaum jemand könne seine Liebe den ganzen Tag hindurch vor Leid bewahren. Man brauche in diesen weltlichen Dingen Glück (Mü11/Mü19 130: Beständigkeit!). Relativierendes Sprichwort: ›Hilfe des Glücks und Gruß der Fortuna haben oft unsteten Fuß‹ (Mü19 131f.: Gelückes hilf fortünen grüs | Dick habentt vnstetten fües; fehlt Ka3).
D Herzenstausch und -rücktausch (151–186):
Der Sprecher referiert die Meinung, dass ein Tausch der Herzen eigentlich unmöglich sei: Man könne ohne das eigene Herz nicht weiterleben. Doch habe er einen solchen Wechsel selbst erlebt: Er habe sein Herz einer Frau gegeben, und sie ihres ihm. Das sei so lange gegangen, bis es sie verdrossen habe: Sein Herz habe sie für zu groß gehalten. Darüber, dass auf diese Weise Treue mit Untreue gelohnt worden sei, wolle er schweigen. Nun sei der Wechsel rückgängig gemacht worden (nur in Ka3): Ihr Herz sei zu ihr zurückgekehrt und er habe das seine wieder an sich genommen (179f.: Sust sol jr hertz jr sin | Da by so sy min hertze min). So lange er lebe, solle sie sein Herz nicht mehr bekommen.
(Klingner, Jacob/Lieb, Ludger: Handbuch Minnereden, S. 100f.)