Geisterkirche (Erzählstoff)
Die Geisterkirche; Die Totenkirche (Erzählstoff) | |
---|---|
Regest | Version 1: Eine Frau geht am Weihnachtsabend um Mitternacht in die Kirche, ohne sich der Uhrzeit bewusst zu sein. Ein fremder Pfarrer predigt, sie erkennt unter der Gemeinde kürzlich Verstorbene. Ihre verstorbene Gevatterin empfiehlt ihr, direkt bei der Wandlung zu fliehen. Sie verlässt die Kirche bei der Wandlung, hinter ihr prasselt es, und die Toten verfolgen sie und reißen ihr ihren Mantel weg. Sie findet das Stadttor noch verschlossen und erkennt, dass ihr zuvor ein böser Geist durch das Tor geholfen hat. Man findet am Morgen ihren Mantel zerrissen auf dem Friedhof: Auf jedem Grabstein liegt ein Fetzen. Signifikant für diese Version ist das Zurücklassen eines Kleidungsstücks, das in Fetzten gerissen wird. Version 2: Ein Bürger bringt am Weihnachtsabend Weizen zur Mühle. Auf dem Heimweg kommt er bei einer Kirche vorbei, in der Mitternachtsmette gehalten werden soll. In ihr singen schon vor der Zeit der Mette Verstorbene "Herr Jesu Christ, wahrer Mensch und Gott". Er setzt sich zu seinem vor kurzem verstorbenen Gevatter und singt mit. Der Gevatter gibt ihm einen Wink, und der Bürger verlässt die Kirche, die hinter ihm mit einem Knall verschwindet. |
Fassungen | Version 1:
Version 2:
|
Forschung (s.a. unter Fassungen) |
Bolte, Johannes: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Band 3, Nr. 208, S. 472-474; Schmidt, Gustav: Aus dem Fichtelgebirg, §46: Die versunkenen und verwunschenen Kirchen (S. 151-154); Sepp, Johann Nepomuk: Völkerbrauch bei Hochzeit, Geburt und Tod, Kap. 50, S. 162-164 |
Synopse der Fassungen der Version 1
Geisterkirche (Widmann)[1] | Geister-Kirche (Grimm)[2] | Geisterkirche [3] (Baader) | Geisterkirche zu Stolberg (Pröhle) | Die Geisterkirche (Schambach)[3] | Die Geisterkirche (Alpenburg) | Das Bimmelglöckchen (Bechstein)[4] | Die Weihnachtsmette der Toten zu Stollberg (Meiche) |
Chronik der Stadt Hof, 1596 | Deutsche Sagen, 1816 | Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden, 1851 | Niedersächsische Sagen und Märchen, 1855 | Unterharzische Sagen mit Anmerkungen und Abhandlungen, 1856 | Deutsche Alpensagen, 1861 | Deutsche Sagenbuch, 1853 | Sagenbuch des Königreichs Sachsen, 1903 |
[185] So hat sich auch ein wunderbarliche, doch wahrhaftige geschicht in S. Lorentzenkirche[5] und uff desselben kirchhof zugetragen.[6] Alß ein andechtige, alte fromme matron, ihrer gewohnheit nach, einsmalß fru morgens vor tag hinaus gen S. Lorentz in die engelmeß[7] gehen wollen. In meinung, es sei rechte zeit und um mitternacht fur das Öber Thor kombt, findet sie dasselbe offen und gehet also hinaus in die kirchen. Da sie dann einen alten unbekandten pfaffen die meß vor dem altar verrichtet sihet. Viel leut, mehrerßtheilß unbekandte, sitzen hin und wider in den stulen, zu beden seiten, auch einstheilß ohne köpff und unter denselben ettliche, die unlangsten verstorben waren, die sie in ihrem leben wol gekandt hatte. Das weib setzet sich mit grosser furcht und schrecken in der stule einen und weil sie nichts dann verstorbene leut, bekandte und unbekandte sihet, vermeinendt, es weren der verstorbenen seelen, auch nicht weis, ob sie wider aus der kirchen gehen oder drinnen bleiben soll, weil sie viel zu fru kommen war, ihr auch haut und haar gen berg stigen, da gehet eine aus dem haufen, welche bei leben (wie sie meinete) ihr gevatterin gewesen und vor dreien wochen gestorben war, ohne zweiffel ein guter engel Gottes, hin zu ihr, zupffet sie bei der kursen[8], beutet ihr einen guten morgen und spricht: "Ei, liebe gevatterin, behut uns der Allmechtig Gott, wie kombt ihr daher? Ich bitte euch umb Gottes und seiner lieben mutter willen, habt eben acht auff, wann der priester wandelt oder consecrirt, so lauffet, weil ihr laufen kundt, und sehet euch nur nicht umb, es kostet euch sonst euer leben!" Darauff sie, alß der prister wandeln will, aud der kirchen geeilet, so sehr sie geköndt, und hat hinter ihr ein gewaltig praßeln, alß wann die gantze kirchen einfiele, gehöret, istihr auch alles gespenst aus der kirchen nachgelauffen und hat sie noch uff dem kirchhof erwischet, ihr auch die kursen (wie die weiber damalß trugen) vom halß gerissen, welche sie dann hinter sich gelassen, und also unversehret davonkommen und entrunnen ist, hat auch, sobald sie vor den kirchhof herauskommen, nichts ferners [186] vermerket. Do sie nun widerumb zum Öbern Thor kombt und herein in die stad gehen will, findet sie das thor noch verschlossen, dann es ettwan umb ein hor nach mitternacht gewesen, mus derowegen wol bei dreien stunden in einem haus verharren, biß das thor geöffnet wird und kan hiraus vermercken, daß kein guter geist ihr zuvor durch das thor geholffen hab und das die schwein (die sie anfangs vor dem thor gesehen und gehört, gleich alß wann es zeit wer, das vieh außzutreiben) nichts anders dann leidige teufel gewesen.[9] Doch weil sie ein behertztes weib ohne das gewesen und sie dem ungluck entgangen, hat sie sich deß dings so hefftig nicht mehr angenommen, sondern ist zu hauß gangen und am leben unbeschedigt blieben, obwol sie wegen des eingenomenen schreckens zwen tag zu bett hat liegen mussen. Denselben morgen aber, da ihr solches zu handen gestossen, hat sie, alß es nun tag worden, uff den kirchhof hinausgeschicket und nach ihrer kursen, ob diselbe noch vorhanden, umbsehenund suchen lassen. Da ist diselbe zu kleinen stuecklein zerrissen gefunden worden, also daß uff einem iden grab ein kleines flecklein gelegen. Darob sich die leut, die hauffenweis derohalben hinaus uff den kirchhof liefen, nicht wenig wunderten. Diese geschicht ist unsern eltern sehr wohl bekanndt gewesen, da man nicht allein hie in der stadt, sonder auch uff dem land, in den benachtbarten orten und flecken, davon zu sagen gewust, wie dann noch heutigs tags leut gefunden werden, die es vor der zeit von ihren eltern gehört und vernommen haben. | Um das Jahr 1516 hat sich eine wunderbare, doch wahrhaftige Geschichte in St. Lorenz Kirche und auf desselben Kirchhof zugetragen. Als eine andächtige, alte, fromme Frau, ihrer Gewohnheit nach, einsmals früh Morgens vor Tag hinaus gen St. Lorenz in die Engelmesse gehen wollen, in der Meinung, es sey die rechte Zeit, kommt sie um Mitternacht vor das obere Thor, findet es offen und geht also hinaus in die Kirche, wo sie dann einen alten, unbekannten Pfaffen die Messe vor dem Altar verrichten sieht. Viele Leut, mehrers Theils unbekannte, sitzen hin und wieder in den Stühlen zu beiden Seiten, eines Theils ohne Köpf, auch unter denselben etliche, die unlängst verstorben waren und die sie in ihrem Leben wohl gekannt hatte. Das Weib setzt sich mit großer Furcht und Schrecken in der Stühle einen und, weil sie nichts denn verstorbene Leute, bekannte und unbekannte, siehet, vermeint, es wären der Verstorbenen Seelen; weiß auch nicht, ob sie wieder aus der Kirche gehen oder drinnen bleiben soll, weil sie viel zu früh kommen wär, und Haut und Haar ihr zu Berge steigen. Da geht eine aus dem Haufen, welche bei Leben, wie sie meinte, ihre Gevatterin gewesen und vor dreien Wochen gestorben war, ohne Zweifel ein guter Engel Gottes, hin zu ihr, zupfet sie bei der Kursen (Mantel), beutet ihr einen guten Morgen und spricht: „ei! liebe Gevatterin, behüt uns der allmächtige Gott, wie kommt ihr daher? Ich bitte euch um Gottes und seiner lieben Mutter willen, habt eben acht auf, wann der Priester wandelt oder segnet, so laufet, wie ihr laufen könnt und sehet euch nur nicht um, es kostet euch sonst euer Leben.“ Darauf sie, als der Priester wandeln will, aus der Kirche geeilet, so sehr sie gekonnt, und hat hinter ihr ein gewaltig Prasseln, als wann die ganze Kirche einfiele, gehöret, ist ihr auch alles Gespenst aus der Kirche nachgelaufen und hat sie noch auf dem Kirchhof erwischt, ihr auch die Kursen (wie die Weiber damals trugen) vom Hals gerissen, welche sie dann hinter sich gelassen und ist sie also unversehret davon kommen und entronnen. Da sie nun wiederum zum obern Thor kommt und herein in die Stadt gehen will, findet sie es noch verschlossen, dann es etwa um ein Uhr nach Mitternacht gewesen: mußt derowegen wohl bei dreien Stunden in einem Haus verharren bis das Thor geöffnet wird und kann hieraus vermerken, daß kein guter Geist ihr zuvor durch das Thor geholfen habe und daß die Schweine, die sie anfangs vor dem Thor gesehen und gehört, gleich als wenn es Zeit wäre, das Vieh auszutreiben, nichts anders, dann der leidige Teufel gewesen. Doch, weil es ein beherztes Weib ohne das gewesen und sie dem Unglück entgangen, hat sie sich des Dings nicht mehr angenommen, sondern ist zu Haus gegangen und am Leben unbeschädigt blieben, obwohl sie wegen des eingenommenen Schreckens zwei Tag zu Bett hat liegen müssen. Denselben Morgen aber, da ihr solches zu Handen gestoßen, hat sie, als es nun Tag worden, auf den Kirchhof hinausgeschicket und nach ihrer Kursen, ob dieselbe noch vorhanden, umsehen und suchen lassen; da ist dieselbe zu kleinen Stücklein zerrissen gefunden worden, also daß auf jedem Grabe ein kleines Flecklein gelegen, darob sich die Leut, die haufenweis derohalben hinaus auf den Kirchhof liefen, nicht wenig wunderten. Diese Geschichte ist unsern Eltern sehr wohl bekannt gewesen, da man nicht allein hie in der Stadt, sondern auch auf dem Land in den benachbarten Orten und Flecken davon zu sagen gewußt, wie dann noch heutiges Tags Leute gefunden werden, die es vor der Zeit von ihren Eltern gehört und vernommen haben. – Nach mündlichen Erzählungen hat es sich in der Nacht vor dem Aller-Seelen-Tag zugetragen, an welchem die Kirche feierlich das Gedächtniß der abgeschiedenen Seelen begeht. Als die Messe zu Ende ist, verschwindet plötzlich alles Volk aus der Kirche, so voll sie vorher war, und sie wird ganz leer und finster. Sie sucht ängstlich den Weg zur Kirchthüre und wie sie heraustritt, schlägt die Glocke im Thurm ein Uhr und die Thüre fährt mit solcher Gewalt gleich hinter ihr zu, daß ihr schwarzer Regenmantel eingeklemmt wird. Sie läßt ihn, eilt fort und als sie am Morgen kommt, ihn zu holen, ist er zerrissen und auf jedem Grabhügel liegt ein Stücklein davon. | Zu Karlstadt geschah es, daß eine fromme Magd in einer Adventsnacht erwachte und läuten hörte. In der Meinung, es sei Zeit ins Rorate, zog sie sich an und ging nach der Kapuzinerkirche. Unterwegs noch vernahm die das Geläute. Als sie an die Kirche kam, wurde darin zur Orgel gesungen, und die Fenster waren hell erleuchtet. Sie ging durch die offene Thüre hinein, es war am ersten Segen und sie knieete schnell in einen Stuhl. Später fiel es ihr auf, daß andere Lieder, als [386] die gewöhnlichen, gesungen wurden; sie schaute umher, erkannte in dem Priester und mehreren andern Verstorbene aus dem Orte und merkte nun, daß sie unter lauter solchen sich befinde. Voll Schrecken floh sie aus der Kirche, und kaum war sie vor der Thüre, so schlug es Mitternacht. Da, mit einem Mal, verstummte in der Kirche Gesang und Orgel, die Lichter erloschen, und ein Windstoß warf die Thüre zu. | In einem Dorfe des Nieder-Eichsfeldes glaubte eine Frau am frühen Morgen das Läuten zur Frühmesse zu hören. Sie kleidete sich rasch an und ging in die Kirche. Hier nahm sie ihren gewöhnlichen Platz ein, sah aber, als der vor dem Altare stehende Geistliche sich umdrehte und der Gemeinde das Gesicht zuwandte, daß sie nicht den jetzigen Geistlichen des Orts, sondern einen vor vielen Jahren verstorbenen vor sich hatte. Nun schaute sie auch zur Seite und sah zu ihrem Schrecken ihre längst verstorbene Nachbarin neben sich. Diese berührte sie mit dem Ellenbogen und gab ihr einen Wink die Kirche zu verlassen. Sie beeilte sich nun das zu thun, ward aber von den Geistern ergriffen und ihr das weiße Laken, welches sie als Mantel umgethan hatte, vom Leibe gerissen. Doch gelang es ihr glücklich wieder aus der Kirche herauszukommen, das Laken aber war in lauter thalergroße Fetzen zerrissen. | In Stolberg wird die Christmette zu Weihnachten am Christmorgen um halb sechs Uhr sehr feierlich gehalten. Eine alte Frau stand des Nachts um 12 auf und meinte schon die Zeit verschlafen zu haben, um zur Christmette zu gehen. Sie machte sich also mitten in der Nacht auf, sah auch schon die Kirche erleuchtet, die unter dem Schlosse am Berge liegt. Die Thuer stand offen, sie ging hinein und setzte sich in ihren Stuhl. Nach einer Weile drehte sie sich um, da sah sie mehrere Bekannte als Geister um sich sitzen, die vor Kurzem gestorben waren. Daran bemerkte sie erst, daß sie unter lauter Geistern saß und eilte aus der Kirche. Indem sie aus der Thuer ging, wurde die Thuer hinter ihr zugeschlagen. Die Thuer faßte ein großes Stueck von ihrem Mantel, der wurde sogleich durchgerissen und das Stueck vom Mantel wurde am andern Morgen auf dem Altar gefunden. | Einer Magd zu Teiß kam einmal an einem Sonn- oder Festtage fortwährend vor dem Betläuten vor, als sie noch halb träumte, es läute vom Kirchthurm zum Gottesdienst. Die Angst, sie versäume die Frühmesse, erweckte sie ganz; eilig stand sie auf, kleidete sich an und ging sofort der Kirche zu; die Kirchthüre stand offen und die ganze Kirche war gedrängt voll Leute. Auf einmal sieht sie ihre verstorbene Base. Dieselbe geht auf sie zu, [350] mahnt sie, sie solle sich alsogleich entfernen und auf dem Friedhofe ein Stück Kleid zurücklassen. Sie geht und läßt auf dem Friedhofe das Hemd zurück. Als die Leute dann wirklich Morgens zum Frühgottesdienste kamen, sahen sie auf jedem Grabe ein Stück Hemd liegen. Das hatten die Geister zerrissen. Hätte jene Magd ihr Hemd nicht auf dem Kirchhofe zurückgelassen, so wäre sie selbst zerrissen worden. | Im Kapellenturme der Burg Waldstein, andere sagen auf Epprechtstein, hat ein Betglöcklein gehangen, dessen Schall hat man an bestimmten Tagen im Jahre gar deutlich gehört, daß man in Zell, am Bergesfuße, öfters geglaubt hat, es hänge im dasigen Kirchturme. Das hat zur Geisterkirche geläutet. Mancher hörte es erklingen, stieg zum Berge hinan und sah und hörte droben nichts. Eine Frau, die ihrem im Walde arbeitenden Mann das Mittagsbrot brachte, hörte den Schall und ging ihm nach. Und wie sie droben um eine Mauerecke der Burg biegt, da erblickt sie die Geisterkirche offen und in hehrer Pracht, und auf dem Turme darüber schwingt sich hin und her das bimmelnde Glöcklein. Orgelton und Chorgesang dringt aus der Kirche; dem Altare zugekehrt steht der Priester, und am Boden knieen die Geharnischten und die Frauen in weißen Schleiern. Da ergreift es die arme Frau gar mächtig, auch niederzuknieen und im Staube mit anzubeten den, welchen alle guten Geister loben, doch zugleich grauset ihr, denn sie fühlt, daß sie nicht zu dieser Gemeinde gehöre. Aber der Andacht frommer Drang zieht sie dennoch hinein in das Heiligtum, und mit Händefalten knieet sie nieder. Da wendet der Priester am Altare sich um, da fällt sein Blick eisig kalt und streng auf sie, er hebt den Arm empor und ruft mit dumpfer Stimme: Wehe! wehe! – und im Nu verschwinden Altar und Priester, Orgel und Chor, Männer und Frauen, der Kirche Schmuck; das Glöcklein sinkt vom Turme und dicht vor der Frau in den Boden – ein Wetter grollt und donnert um die Trümmer, und auf ihren Mauern stehen wieder hoch und stark die seit Jahrhunderten darauf emporgeschoßten Bäume. Ganz bestürzt, mehr tot als lebend, kommt die Frau zu ihrem Manne zurück, lange versagte ihr die Sprache. Der Mann hat nichts von Sturm und Unwetter gehört, der Himmel ist hell und klar. Bebend wankte die Frau nach Hause – nach drei Tagen lag sie auf der Bahre. | In der alten Marienkirche zu Stollberg, die auch "Totenkirche" heißt, feiern die Seelen der Verstorbenen - manche sagen: die in katholischer Zeit Verstorbenen - jedes Jahr in der heiligen Nacht ihre Christmessen. So hatte sich einst eine Frau in der Totengasse (Zwickauerstraße) vorgenommen, in die Weihnachtsmetten zu gehen. Vor Mitternacht schreckt sie aus einem schweren Traum auf und denkt, es sei Zeit zur Kirche. Sie macht Licht, zieht sich an und tritt auf die Straße. Da ist es noch ganz still. Als sie zur Totenkirche kommt, erblickt sie dunkle Gestalten, die dem geöffnetenKirchtore zuschreiten. Verwundert darüber, daß die Metten in dieser Kirche sein sollen, schließt sie sich ihnen an und tritt ein. Das Gotteshaus ist matt erleuchtet. In den Frauenständen ist nur an einer Bank noch ein Eckplatz frei, den sie nun einnimmt. Am Altar sieht sie einen Priester in seltsamer Gewandung, der in einem großen Buche zu lesen scheint, sich verbeugt, niederkniet, alles unter der lautlosen Aufmerksamkeit der zahlreichen Gemeinde. Sie mustert ihre Umgebung: lauter fremde Gesichter, deren Blicke mit unheimlicher Traurigkeit auf ihr haften. Da erkennt sie in ihrer Nachbarin eine Frau, die vor kurzem begraben wurde. Sie will fragen, was das alles bedeutet, aber die Gestalt winkt ihr mit knöchernem Finger zu, daß sie schweige. Da verschwindet die ganze Erscheinung. Zitternd und bebend vor Forcht steht die Frau auf der Straße und bricht an ihrer Haustüre zusammen, wo sie dann von Leuten, die in die wirklichen Metten gehen wollen, halb erstarrt gefunden und heimgebracht wird. Nach drei Tagen trug man sie hinaus nach dem Gottesacker. |
Synopse der Fassungen der Version 2
De cimitirio Agustidunensis urbis (Gregor von Tours) | [Geist predigt auf der Kanzel anderen Geisten] (Froben Christoph von Zimmern)[10] | Die Todtenmette (Bechstein) | Die Christmette in der Totenkirche zu Elsterberg (Köhler)[11] | Der Todtengottesdienst in der Taucherkirche zu Bautzen (Grässe)[12] |
VIII libri miraculorum, vor 594[13] | Zimmerische Chronik, 1566 | Deutsches Sagenbuch, 1853 | Volksbrauch ... im Voigtlande, 1867 | Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, 1874 |
Cimiterium igitur apud Agustidunensim urbem Gallica lingua vocitavit, eo quod ibi fuerint multorum hominum cadavera funerata; inter qua quod sint quorundam fidelium dignarumque Deo animarum sepulchra, frequens occulti psallentii mysterium docet, cum plerumque multis apparent, in ipso vocum praeconio reddentes omnipotenti Deo gratiarum debitam actionem. Nam audivi, quod duo ex incolis loci, dum loca sancta orandi gratia circuire disponerent, audiunt in basilica sancti Stephani, quae huic coniungitur cimitirio, psallentium sonum. Admirantesque dulcedinem modoli, adpropinquant ad ostium templi, autumantes, a quibusdam religiosis vigilias celebrari. Ingredientes autem et orationi diutissime incumbentes, consurgunt, psallentii chorum conspiciunt, nihilque lucere per templum, nisi propria claritate cuncta prospiciunt splendere; de personis vero nullum prorsus agnoscunt. Denique attoniti, stupore perculsi, unus de psallentibus accedit ad eos, dicens: «Exsecrabilem rem fecistis, ut nobis arcana orationum Deo reddentibus adesse praesumeretis. Discedite ergo et a domibus vestris [non] abscedite, alioquin [velociter] ab hoc mundo migrabitis». Ex quibus unus discedens abiit, alter vero, qui in loco remansit, post [non] multos dies a saeculo conmigravit. | Und gleich im hernach volgenden winter [1562/1563] hat sich ein wunderbarliche sach zu Mösskirch in sant Martins pfarrkirchen zutragen. Der tag aber, uf den solichs beschehen, ist gleichwol in vergess kommen. Und wie dann zu Mösskirch gepreuchlich, das man alle tag des morgens früe, bevorab winters zeiten, bei eitel nacht die metin singt, also ist uf ein zeit der alt messner, Hanns Schlamp, mit sampt dem eltesten caplan, herr Jacob Drehern, in die kirchen gangen, der ain die mettin zu leuten, der ander aber seine horas bei s. Martins liechter zu betten. Wie nun der messner ufgeschlossen und darauf baid hinein gangen, haben sie (dann es hell in der kirchen von wegen der prinenden ampln gewesen) ein mansperson in weisem beclaidt uf der canzl und etlich leut hieunden in der kirchen gesehen, die auch all in weisen claidern gesessen, wie man in der predig pfligt zu sitzen. Darbei haben sie den man uf der canzl ganz dussem[14] gehört. Aber so baldt sie für die thür in die kirchen kommen, ist es alles eins mals gleich verschwunden, und nit anders gewest, als ob es nur ain traum. Solchs gewisslich also beschehen, dann der caplon und der messner ehrenleut gewest, darfür sie allwegen gehalten worden. Solchs hat sich nit allain zu Mösskirch begeben, sonder auch es ist bei zwaien jaren darfor zu Stockach in der pfarrkirchen auch fürgangen. Also auch haben die scharwächter zu Zürich bei gar wenig jaren einsmals umb mitternacht ein herrlich ampt hören im Frawenmünster singen, als sie bedeucht hat, mit orgln und andern saitenspillen, und haben [114] gesehen, das die kirch hell und voller angezünter liechter gewest, gleichwol die kirch beschlossen und sonst aller öde gestanden. Als sie des morgens der obrigkait fürbracht, ist inen stillschweigen uferlegt worden. Wer aber dise predicanten und ire zuhörer, auch die, so das ampt im Frawenmünster zu Zürich also gesungen, das waist der allmechtig, dem nichts verborgen, und gemanet mich fast an ein handlung, die sich under dem schloß Eberstain bei meinen zeiten zutragen hat. | Oberhalb Schleusingen liegt die Todtenkirche, vor ihr stehen uralte schöne Linden. Einstmals blieb eine Frau aus Schleusingen, welche bei einem Leichenbegängnis die Predigt mit angehört hatte, und eingeschlafen war, in der Kirche sitzen und mochte ziemlich lange geschlafen haben. Als sie erwacht, ist es Nacht, und die Kirche ist voll Menschen; es wird Mette gehalten, und es summt ein leiser Gesang. Die Frau will mitsingen, kann aber wegen der Düsternis die Nummer nicht erkennen, und rührt an ihre Nachbarin, sich die Nummer des Liedes zeigen zu lassen. Wie sie diese Nachbarin anblickt, hat dieselbe ein Gesicht wie eitel Spinnweben, und ist eine ihr wohlbekannte längst verstorbene Frau. Diese erhebt ihre welke Todtenhand, nur noch Gerippe, und zeigt mit dem gelben Fingerknochen auf das Lied - da erkennt die Frau Nummer und Buchstaben; es ist das Lied: O Ewigkeit du Donnerwort.[15] - Die zum Tod erschrockene Frau kreischt vor Schreck laut auf, da schwinden mit einemmale die bleichen Schatten alle hinweg, und die Frau wankt zitternd nach der Thüre und nach Hause, hat aber nicht gar lange mehr gelebt. | Vor etwa 200 Jahren trug sich in Elsterberg Folgendes zu: Ein Bürger von Elsterberg trug am Weihnachsheiligenabende ein Viertel Weizen in die Mühle. Etwa um 10 Uhr ging er mit dem erhaltenen Mehle wieder nach Hause. Sein Weg führte ihn an dem Gottesacker und der Todtenkirche vorüber, in welcher damals um 12 Uhr nachts Christmette gehalten wurde. Da bemerkte der Bürger zu seinem Erstaunen, daß die Kirche schon um 10 Uhr hell erleuchtet war. Er legte sein Mehl ab, ging hin zur Kirche, wagte sich zur Thüre hinein und erblickte in der Kirche eine Menge Verstorbener, die das Lied sangen: "Herr Jesu Christ, wahrer Mensch und Gott."[16] Unter diesen Wesen mit hohläugigen, bleichen Gesichtern bemerkte er in größter Nähe seinen vor einem halben Jahre verstorbenen Gevatter. Zu diesem setzte sich der Bürger und sang mit. Nach einer Weile gab ihm der verstorbene Gevatter einen Wink mit dem Finger. Der Bürger verstand den Wink, er entfernte sich, und als er aus der Kirche trat und die Thür schloß, geschah ein starker Knall und Alles war verschwunden und finster. | Ein Bautzner Fleischer, der sich auf dem Lande verspätet hatte, schritt an einem trüben Novemberabende auf der alten Görlitzer Landstraße seiner Vaterstadt munter zu. Als er bei der, an der genannten Landstraße unfern des Reichenthores stehenden Taucherkirche anlangte, gewahrte er Licht in diesem, als Begräbnißkirche benutzten Gotteshause. Er meinte aber, man habe sich mit einem Begräbnisse verspätet, und trat durch die sich öffnende Thüre, um sich die Predigt anzuhören, in [112] den geheiligten Raum ein. Seinen Hut vor das Gesicht haltend, betete er ein stilles Vaterunser und nachdem dies geschehen, trat er näher zu einer unfern der Thüre stehenden alten Frau, um mit in das Gesangbuch derselben zu sehen. Ein eigenthümliches Gesumme ertönte durch das Gotteshaus und der ganze weite Raum war seltsam erleuchtet. Sein Blick streifte über die zahlreiche, seltsam gekleidete Versammlung und er gewahrte mehrere ihm wohlbekannte Personen, von denen ihm aber doch bekannt geworden war, daß sie bereits gestorben seien. Die Frau an seiner Seite winkte ihm und gab ihm deutlich zu verstehen, er solle nun das Haus verlassen. Da überkam ihn eine eigenthümliche Angst, er öffnete die Thür und eilte hinaus in’s Freie. Doch kaum war er hinausgetreten, so hörte er einen heftigen Knall, das Licht verlosch und von der Domkirche in der Stadt ertönte der Stundenschlag. Unwillkürlich zählte er, dabei rasch dem Stadtthore zuschreitend, die Glockenschläge und siehe, es war gerade Mitternacht. In Schweiß gebadet, langte der Fleischer am Gitter des Thores an, der wachhabende Stadtsoldat öffnete auf sein ungestümes Klopfen das Pförtchen und vernahm, als sich der höchst aufgeregte und vor Entsetzen zitternde Fleischer etwas erholt hatte, aus dessen Munde die seltsame Kunde. |
Verwandte Sagen
Geisterkirche (1837)[17]
Von Leuten, welche der Liebfrauenkirche nahe wohnen, ist unterschiedlich erzaehlt worden, daß sie zu ungewohnter Nachtstunde die Kirche hell erleuchtet gesehen, Orgelton und Gesang vernommen. Einem Diaconus an derselben Kirche geschah es, daß er auf seinem Lager erwachte, und in der Meinung, es sei Zeit zur Fruehmette, sich in die Kirche begab. Darin fand er bereits den Gottesdienst begonnen. Die Kerzen waren angezuendet; [135] am Hochaltar und an den Seiten-Altaeren standen Priester und Vicare, Meßner und dienende Chorknaben, die vor vielen hundert Jahren in der Kirche ministriert hatten, und eine große Menge Betender fuellte das Kirchenschiff. Da schlug die Glocke zwoelf und mit einem Male verloeschten die fast herabgebrannten Lichter, Priester und Andaechtige verschwanden, und der Diaconus fand sich mit Grausen allein in dem Gotteshaus. Oft und viele Jahre lang soll es auch darin gespukt haben; im Jahr 1612, am Fest Mariae Reinigung, war zweimal, fruehmorgens und Mittags, ein lautes Prasseln und Fallen in dem Fuerstlichen Erbbegraebniß hoerbar. - Einem Kuester traeumte, in einem der uralten Schraenke der Sakristei finde er einen ueber hundert Jahre verborgenen Kelch, und in der That wurde beim Nachsuchen ein solcher Kelch von Silber, vergoldet und mit Edelsteinen besetzt, gefunden, der auf 500 Thaler gewuerdigt wurde. - Schatzgraeber haben auch schon oefter nach Schaetzen in der Fruehkirche gesucht, aber nichts gefunden.
Geisterkirche [1] (1851)[18]
Drei Nächte nacheinander um zwölf Uhr fahren jedes Jahr mehrere Kutschen rasselnd an der Karlsruher Schloßkirche an. Es steigen Leute aus und begeben sich [187] in die hellerleuchtete Kirche, worin alsdann, bei Gesang und Orgelspiel, Gottesdienst gehalten wird. Wenn derselbe aus ist, steigen sie wieder in die Kutschen und fahren davon. Einmal wagten sich die Schloßwächter während dieses Gottesdienstes in die Kirche, und da sahen sie lauter Verstorbene, nämlich den Großherzog Ludwig mit seinem Hofstaat, in den Stühlen sitzen und der Predigt zuhören, die ein abgeschiedener Hofpfarrer von der Kanzel hielt. Von Schrecken getrieben, eilten die Wächter von dannen.
Geisterkirche [2] (1851)[19]
Eine Frau zu Heidelberg, welche in die Christmette wollte, kam irriger Weise, statt um zwölf, schon um elf Uhr an die Jesuitenkirche. Sie ging durch die offene Thüre, besprengte sich mit Weihwasser und knieete in [320] einen der vordern Stühle. Auf dem Hochaltar brannten die Lichter, und an ihm saßen zwölf Geistliche in ihrer kirchlichen Kleidung, still und unbeweglich. Hieran, so wie am Leerbleiben der Kirche, merkte endlich die Frau, daß sie zur unrechten Zeit gekommen sei. Sie beendete nun ihr Gebet und wollte die Kirche verlassen, wobei sie wieder sich mit Weihwasser segnete. Da sprach ein Geistlicher, der am Weihwasserkessel stand und gerade so aussah, wie die am Altare: "Das war dein Glück, daß du noch einmal Weihwasser genommen hast!" Nach diesen Worten verschwand er. Heftig erschreckt eilte die Frau zur Kirchenthüre, fiel aber dort in Ohnmacht, woraus sie erst die Leute erweckten, die nachher in die Christmette kamen. In Folge des Schreckens starb die Frau nach einigen Tagen.
Die gestohlene Gans (1856)[20]
Vor langer Zeit ist in Osterwieck einer Frau eine Gans gestohlen, als Dieb derselben hatte sie eine andere Frau in Verdacht. Sie verklagte daher dieselbe und ließ sie beeiden. Beide Frauen starben bald darauf. Da hoert denn einst ein "Choraennenknabe" (Currendenknabe) waehrend der Nacht ein Laeuten in der St. Nikolaikirche. Er springt in voller Angst aus dem Bette, zieht sich an und geht nach der Kirche, welche er offen und hell erleuchtet findet. Der Knabe begibt sich auf seinen Platz, sieht viele Andaechtige, erkennt aber Niemand, versteht auch nicht, was sie singen. Nach Beendigung des Gesanges kommt ein Pastor hinter dem Altar weg und begibt sich davor, wird aber auch nicht von ihm erkannt. Das scheint ihm wunderlich, doch soll er nicht lange im Unklaren bleiben. Es stehen naemlich zwei Weiber auf und gehen vor den Altar. Der Knabe erkennt sie als jene beiden Frauen. Der Pastor verhoert diese und es ergibt sich daraus die Unschuld der fuer schuldig gehaltenen Frau. Zugleich wird offenbar, daß der Dieb noch am Leben, jetzt aber schwer krank sei. Nach diesem kommt eine Frau auf den Knaben zu, die derselbe als die vor wenigen Jahren verstorbene Schwester seiner Mutter [43] erkennt. Sie gibt ihm durch einen Wink zu verstehen, daß er sich aus der Kirche entfernen moege. Der Knabe thut's, die Kirchthuer wird mit aller Gewalt hinter ihm zugeschlagen. Da er draußen ist, schlaegts, er zaehlt 12. Zu Hause angekommen, fragt ihn seine Mutter, wo er gewesen sei. Morgen frueh, antwortet er, will ich's euch erzaehlen. Am Morgen theilt er ihr alles mit. Die Mutter meldet's der Obrigkeit und die in der Kirche als Gaensedieb bezeichnete kranke Frau gesteht, durch den Pfarrherrn tief ins Gewissen gegriffen, ihr Vergehen.
Verwandte Legende
Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Das alte Mütterchen[21]
Es war in einer großen Stadt ein altes Mütterchen, das saß Abends allein in seiner Kammer; es dachte so darüber nach, wie es [302] erst den Mann, dann die beiden Kinder, nach und nach alle Verwandte, endlich heute auch noch den letzten Freund verloren hätte, und nun ganz allein und verlassen wäre. Da ward es in tiefstem Herzen traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, daß es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte. So saß es still und in sich versunken, als es auf einmal zur Frühkirche läuten hörte und sich wunderte, daß es die ganze Nacht also in Leid zugebracht. Es zündete seine Leuchte an und ging zur Kirche; bei seiner Ankunft war sie schon hell, aber nicht, wie gewöhnlich, von Kerzen, sondern von einem dämmernden Lichte. Sie war auch schon angefüllt mit Menschen und alle Plätze besetzt, und als es zu seinem gewöhnlichen Sitz kam, war der auch nicht mehr ledig, sondern die ganze Bank gedrängt voll. Und wie es die Leute ansah, so waren es lauter verstorbene Verwandten, die saßen da in ihren altmodischen Kleidern, aber mit blassem Angesicht. Sie sprachen auch nicht und sangen nicht, es ging aber ein leises Summen und Wehen durch die Kirche. Da stand eine Muhme auf, trat vor und sprach zu dem Mütterlein: „dort sieh nach dem Altar, da wirst du deine Söhne sehen.“ Die Alte blickte hin und sah ihre beiden Kinder, der eine hing am Galgen, der andere war auf ein Rad geflochten. Da sprach die Muhme: „siehst du, so wär es ihnen ergangen, wären sie im Leben geblieben, und hätte sie Gott nicht als unschuldige Kinder zu sich genommen.“ Die Alte ging zitternd nach Haus und dankte Gott auf den Knieen, daß er es besser mit ihr gemacht, als sie hätte begreifen können; und am dritten Tag legte sie sich und starb.
Balladenfassung
Wilder, Johann Christoph Jakob: Die Frühmesse am Allerseelentag[22]
Nein, es ist ja silberhelle alles auf den Straßen schon,
Und ich habe klar vernommen auch der Mette Glockenton;
Das ist nicht des Mondes Leuchten, denn kein Schauder reget sich,
Weil er vor des Tages Glänzen schüchtern und beschämt entwich.
Wie sie das zu sich gesprochen, hebt Herrn Imhofs Wittwe still
Sich vom Lager, die zur Messe ohne Säumnis gehen will,
Denn sie achtet es für Sünde, daß sie käme dort zu spät,
Wo sich vor dem Herren beuget die Gemeine im Gebet.
[90]
Nimmt den Mantel um die Schultern und den Rosenkranz zur Hand,
Hat zum Gott der Gnade gläubig ihre Seele hingewandt,
Flehen will sie um Vergebung an dem Allerseelentag,
Daß mit ihren Abgeschied'nen er Erbarmen haben mag.
Und die Kirche sieht sie offen, Licht und Lapen überall,
Und in allen Stühlen knieen fromme Beter ohne Zahl,
Doch ein Dunkel sieht sie schwimmen ob den Lichtern wundersam,
Ohne daß sie deuten konnte, wie dazu das Zwielicht kam.
Denn als wie ein Grabesodem weht es durch der Kirche Gang
Von dem Chore ihr entgegen, und es schlug das Herz ihr bang,
Und die Priester am Altare sieht sie, wohlbekannt ihr, steh'n
Ganz wie sie ihr Amt so fleißig immer pflegten zu verseh'n.
All' die Männer, die gebetet, waren schon verstorben lang,
Und man hat zu Grab getragen sie mit frommer Priester Gang;
Auch die heil'gen Diener Gottes waren längst zur Ruh' gebracht,
Daß die Frau im stummen Staunen selbst sich fraget, ob sie wacht?
[91]
Erdfarb waren Aller Mienen, und im Auge brannte nicht
Jenes frische Lebensfeuer, wo Blick zum anderen spricht;
Alle schauen vor sich nieder, murmeln die Gebete her,
Als ob eine Geisterkirche rings um sie versammelt wär'.
Und es werden ihre Sinnen auch fast wirr - es stockt das Wort
Ihr im Beten und ihr Schaudern wächst am grauenvollen Ort,
Denn als ihre Blicke schweifen durch die Menge, sieht sie klar
Neben sich sogar die Freundin, die ohnlängst verstorbnen war.
In die todte Brust derselben fällt herein des Mitleids Strahl,
Daß sie warne, die sich hatte her verirrt in ihre Zahl;
Und die Abgeschied'ne bücket sich zu der Gevatt'rin leis',
Die die mitternächt'ge Messe selbst sich nicht zu deuten weiß.
"Liebe Frau, die du hier betest um der Abgeschied'nen Ruh',"
Sprach sie, "hör' auf meine Rede - wird's zu spät, so stirbst auch du.
Wenn die Wandlung soll geschehen und das Läuten hebet an,
O, so eile aus der Kirche, was dein Fuß nur eilen kann!"
[92]
Und Herrn Imhofs Wittwe drücket unbewußt der Freundin Hand,
Achtet sich zum Dank verpflichtet, als die Warnung sie verstand;
Scheuet nicht die Todeskälte, die durchrieselt ihr Gebein,
Da sie diese Hand gehalten oft im freundlichen Verein.
Als die Zeit kam, die genennet ihr die Freundin, eilt zur Thür
Sie voll Aengsten und es stürzen alle nach auch hinter ihr,
Und ein Poltern und ein Krachen in der Kirche heil'gem Raum
Tönt ihr nach, und in Betäubung fühlet sich die Arme kaum.
Alle wollen sie noch haschen, die scheu wie ein Reh entflieht,
Die das Grab vor sich schon offen, hinter sich die Todten sieht!
Sollen denn die Abgeschied'nen jetzt schon haben an ihr Theil?
Nein, sie will auf Erden schaffen länger noch ihr Seelenheil!
Und den Mantel, der ihr flattert von den Schultern, als sie fleucht,
Läßt sie los, damit der Todten Schaar etwas von ihr erreicht;
[93] Ihn fand man am Morgen wieder auf dem Kirchhof, doch er war
Wie von hundert gier'gen Händen auch zerrissen ganz und gar.
Die von Grabesschreck Gequälte sinkt auf's Krankenlager lang,
Geht dann in Sanct Clarens Kloster, folget dort des Herzens Drang,
Preis't den Herrn, der sie gerettet und durch Todesahnung ihr
Eingeflößt hat nach dem Himmel heiße, heilige Begier.
Anmerkungen
- ↑ Die Sage ist als zweiter Text unter der marginalisierten Überschrift "Zwo seltzame geschicht, deren eine am galgen, die ander uff dem kirchhoff zum Hof sich zugetragen" aufgeführt:
Zu dieser zeit [1516] haben sich zwo wunderliche und seltzame historien allhie begeben.
1. Do ein aberglaubisches unbedechtiges weib, uff einen tag fru morgens, hinaus zu dem gericht gangen, innwendig im galgen hinauffgestigen und einen dieb, welcher kurtz zuvorn war gehencket worden, verschneiden und diselbe materien ins bier hencken wollen, damit die leut desto mehr zulauffen und das bier sehr holen solten, hat Gott der Allmechtig solchs ihr furnehmen sichtiglich gestraffet, daß der todte corper mit den fussen ihr umb den halß gefallen und sie so fest gehalten hat, daß, wo nicht leut, die ettwa in der nähe geschnitten oder sonsten furuber gangen, sie schreien und winseln gehöret und ihr geholffen hetten, sie umb ihr leben kommen were. Die leut aber, so zugelauffen, haben des todten cörpers fuß mit grosser muh und arbeit voneinander bringen und die Frau ledig machen konnen. Welches dann furwitzigen, losen leuten (die noch heutigs tags bißweilen mit solchen bösen stucken umbgehen, den dieben ihre finger, daumen, zehen etc. abschneiden und in die fässer hengen) zur treuen warnung dienen soll. - ↑ Identisch wiedergegeben unter dem Titel "Die Geisterkirche in Hof" in: Köhler, Ernst: Volksbrauch, Aberglaube, Sagen, Leipzig 1867, Nr. 140 (S. 530f.).
- ↑ Identisch wiedergegeben unter dem gleichen Titel in Graesse, Johann Georg Theodor: Sagenbuch des Preußischen Staats, Glogau 1868, Nr. 552, S. 502.
- ↑ Identisch wiedergegeben unter dem gleichen Titel in Gradl, Heinrich: Sagenbuch des Egergaues, Eger 1892, Nr. 89 (S. 45f.); zusammengefasst (mit Quellenverweis Gradl) in Schmidt, Gustav: Aus dem Fichtelgebirg, S. 153f.
- ↑ Seit der Reformation evangelisches Kirchengebäude in Hof.
- ↑ Widmann datiert das Geschehen auf 1516, vgl. Chronik der Stadt Hof, S. 184
- ↑ Die mitternächtliche Christmette, vgl. Balthasar Fischer: Engelamt. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 3. Herder, Freiburg im Breisgau 1995, Sp. 655.
- ↑ Pelzmantel, vgl. Lexer, Art. kürsen.
- ↑ Ggf. Anspielung auf Luk. 8,32f.: "Es war aber dort auf dem Berg eine große Herde Säue auf der Weide. Und sie [die Dämonen] baten ihn, dass er ihnen erlaube, in diese zu fahren. Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die Dämonen von dem Menschen aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürmte den Abhang hinunter in den See und ersoff."
- ↑ Leicht gekürzt und modernisiert wiedergegeben unter dem gleichen (hier rückübertragenen) Titel in: Bader, Joseph: Badisches Sagenbuch, S. 210f.
- ↑ Identisch wiedergegeben unter dem Titel "Die Christmette in der Todtenkirche zu Elsterberg" in: Grässe, Johann Georg Theodor: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen, Band 2, Dresden 1874, Nr. 625 (S. 29f.); nach einer Einleitung ("Vor etwas mehr als zweihundert Jahren trug sich in Elsterberg folgendes zu:") unter gleichem Titel identisch widergegeben in Meiche, Alfred: Sagenbuch des Königreichs Sachsen, Leipzig 1903, Nr. 301 (S. 238f.).
- ↑ Identisch wiedergegeben unter gleichem Titel in Meiche, Alfred: Sagenbuch des Königreichs Sachsen, Leipzig 1903, Nr. 329 (S. 255).
- ↑ Text nach [1].
- ↑ Hier in der Bedeutung von matt, schwach, verhalten, vgl. [www.woerterbuchnetz.de/DWB2?lemid=D17142 Grimm, Art. Dusem]
- ↑ Protestantisches Kirchenlied von Johann Rist (1607-1667):
1) O Ewigkeit, du Donnerwort, / o Schwert, das durch die Seele bohrt, / o Anfang sonder Ende! / O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, / ich weiß vor großer Traurigkeit / nicht, wo ich mich hinwende! / Mein ganz erschrocknes Herz erbebt, / dass mir die Zung am Gaumen klebt.
2) Kein Unglück ist in aller Welt, / das endlich mit der Zeit nicht fällt / und ganz wird aufgehoben. / Die Ewigkeit nur hat kein Ziel, / sie treibet fort und fort ihr Spiel, / lässt nimmer ab zu toben. / Ja, wie mein Heiland selber spricht: / Ihr Wurm und Feuer stirbet nicht.
3) O Ewigkeit, du machst mir bang; / o ewig, ewig ist zu lang! / Hier gilt fürwahr kein Scherzen. / Drum, wenn ich diese lange Nacht / zusamt der großen Pein betracht, / erschreck ich recht von Herzen. / Nichts ist zu finden weit und breit / so schrecklich als die Ewigkeit.
4) Ach Gott, wie bist du so gerecht, / wie strafest du den bösen Knecht / mit unerhörten Schmerzen! / Auf kurze Sünden dieser Welt / hast du so lange Pein bestellt. / Ach, nimm es wohl zu Herzen / und merke dies, o Menschenkind: / kurz ist die Zeit, der Tod geschwind!
5) Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf; / ermuntre dich, verlornes Schaf, / und bessre bald dein Leben! / Wach auf, es ist sehr hohe Zeit, / es kommt heran die Ewigkeit, / dir deinen Lohn zu geben! / Vielleicht ist heut der letzte Tag; / wer weiß doch, wann er sterben mag? - ↑ Protestantisches Kirchenlied von Paul Eber (1511-1569):
Herr Jesu Christ, wahr´r Mensch und Gott / Der du litt’st Marter, Angst und Spott / Für mich am Kreuz auch endlich starbst / Und mir dein´s Vaters Huld erwarbst
Ich bitt durch´s bitt´re Leiden dein / Du wollst mir Sünder gnädig sein / Wenn ich nun komm in Sterbensnoth / Und ringen werde mit dem Tod
Wenn mir vergeht all mein Gesicht / Und meine Ohren hören nicht / Wenn meine Zunge nicht mehr spricht / Und mir vor Angst mein Herz zerbricht
Wenn mein Verstand sich nicht besinnt / Und mir all menschlich Hülf zerrinnt / So komm, o Herr Christ mir behend / Zu Hülf an meinem letzten End
Und führ mich aus dem Jammerthal / Verkürz mir auch des Todes Qual / Die bösen Geister von mir treib / Mit deinem Geist stets bei mir bleib
Bis sich die Seel vom Leib abwend´t / So nimm sie, Herr in deine Händ / Der Leib hab in der Erd sein Ruh / Bis sich der jüngst´ Tag naht herzu
Ein fröhlich Auferstehn mir verleih / Am jüngsten G´richt mein Fürsprech´ sei / Und meiner Sünd nicht mehr gedenk / Aus Gnaden mir das Leben schenk
Wie du hast zugesaget mir / In deinem Wort, das trau ich dir / Fürwahr, fürwahr, euch sage ich / Wer mein Wort hält und glaubt an mich
Der wird nicht kommen ins Gericht / Auch den Tod ewig schmecken nicht / Und ob er gleich hie zeitlich stirbt / Mitnichten er drum gar verdirbt
Sondern ich will mit starker Hand / Ihn reißen aus des Todes Band / Und zu mir nehmen in mein Reich / Da soll er denn mit mir zugleich
In Freuden leben ewiglich / Dazu hilf uns ja gnädiglich / Ach Herr! vergib all unsre schuld / Hilf! daß wir warten mit Geduld
Bis unser Stündlein kommt herbei / Auch unser Glaub stets wacker sei / Dein´m Wort zu trauen festiglich Bis wir einschlafen seliglich. - ↑ Bechstein, Ludwig: Die Sagen aus Thüringens Vorzeit, 23, S. 134f.
- ↑ Baader, Bernhard: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden, 202, S. 186f.
- ↑ Baader, Bernhard: Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden, 355, S. 319f.
- ↑ Pröhle, Heinrich: Unterharzische Sagen mit Anmerkungen und Abhandlungen, 117, S. 42f.
- ↑ Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen, Band 2, Aufl. 2, Nr. 208, S. 301f.
- ↑ Wilder, Johann Christoph Jakob: Gedichte. Nürnberg 1838, S. 89-93.