Das Büchlein (B24)

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Das Büchlein (B24)

AutorIn Anon.
Entstehungszeit Nach 1220
Entstehungsort
AuftraggeberIn
Überlieferung Wien, Österreichische Nationalbibliothek: Ser. n. 2663, 26va-28rb
Ausgaben
Übersetzungen
Forschung Klingner, Jacob/Lieb, Ludger: Handbuch Minnereden, Band 1, S. 32-36

Inhalt

A Einleitende Klage (1–52):

Mit einem dreifachen Owe (1) eröffnet der Sprecher seine Klage, die er darüber führt, dass ihm aus herzeliebe (11) herzeleit (10) erwachsen sei. Er bezeichnet sein Verhalten zwar als wipliche klage (14), also als Klage, die typisch für eine Frau sei, setzt aber das Verständnis aller selbst vom Liebesleid Betroffenen voraus. Bitter bietet er sich dem Sorgenfreien als Lehrer an, der mit seinem eigenen Beispiel einen Weg zum Unglück aufzeigt (33f.: ich kan wol gnade leren | ze ungemache keren) und nicht zur Linderung von Leid – solchen Rat habe er in seiner verzweifelten Lage selbst dringend nötig (47–52: Beschreibung als todgeweiht, lebendig begraben). – Der Sprecher stellt im Folgenden seine Situation und mögliche Lösungsansätze ausführlich dar, indem er sie mit hergebrachten Meinungen (anonymen Autoritäten, Sprichwörtern) kontrastiert. Ein klarer Aufbau ist nicht erkennbar, die folgende Gliederung orientiert sich an der Abfolge der aufgegriffenen Argumente.

B Paradox ›Leid aus Liebe‹ (53–136):

Zunächst stellt der Sprecher die Position der wisen (53) und zahlreicher Liebender dar, die vollkommene Minne, d.h. die ritterliche, beständige Liebe für das höchste und erstrebenswerteste Ideal weltlichen Lebens hielten. Auch er habe sein Streben danach ausgerichtet – allerdings sei ihm das zum Gegenteil ausgeschlagen: Die Bemühungen und Wirkungen der höfischen Liebe habe die übele huote (97) zerstört. Nun bereite ihm die Erinnerung an die Größe seines vergangenen Glücks besonders großes Leid (103–119: mehrere Paradoxa, z.B. 107f.: ich han mit liebe liep verkorn, | mit gewinne gewin verlorn), weshalb er den selig preist, der nie Glück erfahren hat, und deshalb sein Schicksal klaglos und ohne Sehnsucht nach dem früheren Glück annehmen kann (121–136).

C Kritik an Treue und Beständigkeit (137–170):

Der Sprecher kritisiert die Meinung, dass Treue und Beständigkeit das höchste Glück und den besten Schutz vor Leid garantierten: In seinem Fall hat Treue zu großem Kummer geführt, da er die Dame, die seine treue Liebe erwidert und für ihn Leben und Ehre auf Spiel gesetzt habe, nicht mehr sehen und ihre Gnade nicht vergelten könne.

D Narr und Kluger (171–270):

Narr und Kluger erfahren unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung, aber auch unterschiedliches Leid. Der Kluge versuche, den Ansprüchen der Welt und denen Gottes gerecht zu werden, habe aber als Diener zweier so unterschiedlicher Herren keine Ruhe. Zudem bereite ihm die Liebe Leid. Der Narr hingegen sei von solchen Problemen frei, sorglos und unbeschwert (210f.: Ein stücke brotes in der hant | ist alliu sine minne). Der Sprecher sieht sich zwischen den beiden stehen; er sei aber zumindest so klug zu erkennen, dass es besser für ihn wäre, ein Narr zu sein, um die Probleme seiner Liebessehnsucht hinter sich zu lassen. Den Verlust seines Verstandes – und damit seines Leides – verhinderten andererseits seine Hoffnung auf ein gutes Ende, sein Vorsatz, alle Wünsche der der Dame ehrenvoll zu erfüllen und die Erkenntnis, dass er durch eine Abkehr von der vollkommenen Dame nur sich selbst schädigen würde.

E Unauflösbarkeit des Dienstes (271–342):

Andere hätten mit ihrer Treue mehr Glück, oder könnten sich leichter über den Verlust einer Liebe (und sei es die einer Fürstin) hinwegtrösten, was der Sprecher neidlos anerkennt. Fände er nur einen Makel an der geliebten Dame, könnte er sich auch leicht von ihr trennen – da sie vollkommen sei, könne sein Verstand keinen Trennungsgrund finden. Der Sprecher erinnert die Dame an dieser Stelle an ihre Verpflichtung gegenüber ihm als treuem Eigenmann (Dienst-Lohn-Mechanismus), d.h. sie solle trotz langer Trennung durch die ›Huote‹ oder missgünstigen Ratschlägen seine Liebe erwidern und den Schmerz mittragen (wenn auch in geringerem Maße, als er ihn erleide – denn dieser brächte sie um).

F Ehre und Schande (343–380):

Für die Weisen, die ins Innere der Menschen schauen können (343f.: die wisen die […] der liute muot spehent), sei klar, dass ihm die Dame zugleich Ehre und Schande einbringe: Ehre, weil die Zuneigung einer solch vollkommenen Frau ehrenvoll sei; Schande, weil er, seit die ›Huote‹ das Verhältnis unterbunden habe, völlig kommunikations- und handlungsunfähig sei und absehe, dass man ihn für verrückt halten werde.

G Tod als Leidvertreib (381–406):

Was die Glücklichen fürchteten, das bereite ihm Freude. So sei für ihn die Aussicht auf den unausweichlichen Tod keine Drohung. Es sei vielmehr tröstlich, dass der Tod ihn spätestens in achtzig Jahren, wenn nicht früher, von seinem Leiden erlösen werde.

H Das kleinere Übel (407–450):

Da er keine Lösung kenne, müsse er von zwei Übeln das kleinere wählen: Also Treue und Leid statt Untreue und Unbeschwertheit, da in letzterem Fall die ewige Verdammnis folge. Zudem sei zeitweiliger Kummer als Kontrast notwendig, um überhaupt Freude empfinden zu können (436–446: Beispiel der Blumen, deren Blüte man nur nach dem Winter als besonders wahrnehmen und erwünschen könne). Mit sicherer Aussicht auf Trost – die er nicht habe – sei Kummer gut zu ertragen.

I Unmöglichkeit des Verzichts (451–580):

Der Sprecher gibt einen ›brüderlichen‹  Rat an alle, denen es ähnlich gehe wie ihm: Sie sollen nicht nach dem streben, was sie nicht haben können. Ihm selbst sei das bisher immer gelungen, nun aber sei er feige und machtlos: Wenn er nicht mehr nach der Liebe streben wolle, vergrößere sich nur der Kummer. Da die Weisen für möglich hielten, dass ein Mann auf alles verzichten könne, müsse er selbst wohl das Herz einer Frau besitzen und ein Feigling sein. Eine andere Wahrheit der Weisen, dass man Liebe durch eine neue Liebe vergessen könne, klagt er als snidende lüge (511) an: Er habe dies versucht, und um Damen, die der Geliebten in nichts nachstünden, geworben. Im Liebesspiel mit einer anderen sei ihm die Geliebte aber nie aus dem Sinn gegangen, er habe sogar ihren Namen ausgesprochen, sodass die andere seine Gebundenheit erkannt habe (Wiedergabe wörtlicher Rede 538: geselle, du minnest anderswar). ›Ungestabte‹ (nicht ernst gemeinte; ungestabten aus vngestalten konjiziert) Eide habe er geschworen. Er habe versucht, sich selbst zur Freude zu zwingen (554: und huop ein liet an und wart fro), sei aber immer schnell in den alten Zustand zurückgefallen. Allegorie des inneren Kampfes: Nach kurzem Ritt beginnen Freude und Leid ihren Kampf; Freude flieht und überlässt den Sprecher der leidvollen Sehnsucht. Hebe Gott die ›Huote‹ (576: dise übele huote) nicht auf und ermögliche, dass er die Geliebte minnen könne, so müsse er gewiss sterben.

J Allgemeine Weisheit und eigene Erfahrung (581–643):

Der Sprecher berichtet von einem ihm bekannten Weisen, der in der Gewissheit, dass auf Leid Freude folgt, nie klage, sowie von der landläufigen Meinung (588: diu werlt giht), dass jeder Schaden zu irgend etwas gut ist. Er dagegen kenne seinen Schaden, warte aber noch auf den Nutzen, und fürchte, dass ihm Gott diesen zu lange vorenthalte: Was nütze ihm denn die Minnefreude im Alter, wenn er und sie füreinander ungeeigent geworden seien (602f.: daz ich ir entouc noch si mir – | nu waz sol si mir danne?)? Dem Weisen glaube er, dass nach Liebe Leid folge, nicht aber das Gegenteil, wenn er es selbst nicht erfahre. An die Weisheit des Weisen glaube er daher so sehr wie an weiße Kohlen und schwarzen Schnee (Adynata). Auch die Weisheit, dass der keinen Nachteil habe, der bei einer Aufteilung teile und auch als erster wähle, habe sich an ihm nicht bewahrheitet. Er habe die Frauen aufgeteilt in die Geliebte und alle anderen; dann habe er als das bessere Teil die Geliebte ausgewählt, was sich nun als Unglück erweise. Hieran könne man sehen, dass niemand die Wirkung einer Sache und die Rechtmäßigkeit des Handelns abschätzen könne: Alles sei eine Sache des Glücks.

K Trost und ›Untrost‹ (644–810):

Der Sprecher räumt ein, dass sich die oben kritisierten Weisheiten doch noch bewahrheiten könnten, vorausgesetzt, die Dame sei ihm ebenso treu, leide an der Trennung und sei ernsthaft an seiner Liebe interessiert. Die zweifelhafte Aussicht, nach langer Trennung doch noch zur erlösenden Gemeinschaft zu kommen, diskutiert der Sprecher mit einer Folge von Argumenten, die gegen (untrost) bzw. für (trost) die Treue der Geliebten sprechen könnten. 1.a. Zunächst könnte seine Abwesenheit ihre Beständigkeit schwächen (Sprichwort 673: daz uz ougen daz uz muote [aus den Augen, aus dem Sinn] = ›Untrost‹), 1.b. wogegen der Sprecher ein anderes Sprichwort anführt: daz rehtiu liebe niht zerge (681; = ›Trost‹). 2.a. Die Frauen wiederum seien wankelmütiger als die Männer, daher müsse er besonders Nebenbuhler fürchten, die ihr in seiner Abwesenheit nahe seien (›Untrost‹). 2.b. Die Treue der Geliebten werde jedoch dadurch gestärkt, dass solcher Wankelmut ihrer Ehre schade (›Trost‹) – wohingegen paradoxerweise die Ehre der Männer durch solche Abenteuer gestärkt werde (700: ir schande ist unser ere). Zudem treffe er auf seinen Reisen mehr Frauen, als sie Männer treffe, was ihn aber nicht dazu verleite, ihr untreu zu werden. 3.a. Problematisch sei aber die traditionelle Struktur der Werbung (740: wan daz ist nach den alten siten): Ihre Treue sei bei einem Treffen mit einem tapferen und redegewandten Mann gefährdet, weil sie seiner Werbung beständig widerstehen müsse (›Untrost‹). Er als werbender Mann werde nie direkt von den umworbenen Damen in Versuchung geführt. 3.b. Abschließend tröstet sich der Sprecher mit der Erkenntnis, dass die Dame gar nicht anders könne, als ihm treu zu sein und ihm ewig beizustehen: Sie sei klug genug, um zu wissen, dass die Unbeständige den Hass der Gesellschaft und Gottes auf sich ziehe, die Keusche und Beständige sich dagegen Ehre und Integrität vor Gott und den Menschen erhalte (›Trost‹). Zudem sollte sie es sich gut überlegen, die Minne eines Mannes zurückzuweisen, der beständig, wohlgestaltet und freundlich sei. Diese Mahnung verbindet er mit einer Versicherung, der Dame ganz ergeben und in seinem Streben voller Hoffnung zu sein, dass sie ebenfalls nach lebenslanger Gemeinschaft mit ihm strebe (810: so müez wir sament alten).

L Botenauftrag und Adressierung (811–826):

Der Sprecher spricht sein kleinez Büechel (811) direkt an und gibt ihm dem Auftrag, der Dame in seiner Abwesenheit seine beständige Minne und die Nähe seines Herzens kund zu tun. Er bekräftigt, dass eine Trennung nie von ihm ausgehen würde und schließt mit einem Segenswunsch für Gesundheit und Ehre der Geliebten, und einem Amen.

(Klingner, Jacob/Lieb, Ludger: Handbuch Minnereden, Band 1, S. 33-36)