Der Mann vom Galgen (Erzählstoff)
Der Mann vom Galgen (Erzählstoff) | |
---|---|
Regest | Einem Gehenkten wird ein Körperteil abgeschnitten und als Nahrung zubereitet. Der Erhängte erscheint und verlangt das Körperteil vom Dieb zurück. |
Fassungen | 'Die gewürgte Bierwirtin' (1596). In: Widmann, Enoch: Chronik der Stadt Hof, Edition: Rösler, Maria (Hrsg): Enoch Widman, S. 292 'Die gewürgte Bierwirtin' (1692). In: Reußische Gerauische Stadt- und Land-Chronica (Johann Caspar Zopff), S. 23f. Ahlemann (1848). In: Kuhn, Adalbert/Schwartz, Friedrich: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche, Nr. 15, S. 357f. Der Mann vom Galgen (1856). In: Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen, 3. Aufl., Bd. 3 (Anmerkungsband), S. 267 'Ein Gehenkter würgt eine Frau aus Schleiz' (1871). In: Eisel, Robert: Sagenbuch des Voigtlandes, Nr. 698, S. 277 'Das Rippchen' (1898). In: Goetz, August: Volkskunde von Siegelau, S. 31 Lumpl und Leber (1902). In: Das deutsche Volkslied 4, Nr. 7 (1902), S. 103f. (online) Die gestohlene Leber (1979). In: Petschel, Günter: Volkssagen aus Niedersachsen, S. 80f. |
Forschung (s.a. unter Fassungen) |
Bolte, Johannes: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Bd. 3, S. 478-483 |
Fassungen
'Die gewürgte Bierwirtin' (Widmann: Chronik der Stadt Hof, 1596)[1]
Do ein aberglaubisches unbedechtiges weib, uff einen tag fru morgens, hinaus zu dem gericht gangen, innwendig im galgen hinauffgestigen und einen dieb, welcher kurtz zuvorn war gehencket worden, verschneiden und diselbe materien ins bier hencken wollen, damit die leut desto mehr zulauffen und das bier sehr holen solten, hat Gott der Allmechtig solchs ihr furnehmen sichtiglich gestraffet, daß der todte corper mit den fussen ihr umb den halß gefallen und sie so fest gehalten hat, daß, wo nicht leut, die ettwa in der nähe geschnitten oder sonsten furuber gangen, sie schreien und winseln gehöret und ihr geholffen hetten, sie umb ihr leben kommen were. Die leut aber, so zugelauffen, haben des todten cörpers fuß mit grosser muh und arbeit voneinander bringen und die Frau ledig machen konnen. Welches dann furwitzigen, losen leuten (die noch heutigs tags bißweilen mit solchen bösen stucken umbgehen, den dieben ihre finger, daumen, zehen etc. abschneiden und in die fässer hengen)[2] zur treuen warnung dienen soll.
'Die gewürgte Bierwirtin' (Zopff: Reußische Gerauische Stadt- und Land-Chronica, 1692)[3]
1516.
Hat sich an einem benachbarten Orte[4] eine seltsame Geschicht zu getragen. Denn da ein [24] aberglaubisches unbedaechtiges Weib auf einen Tag frühe Morgens hinaus zu dem Gerichte gangen / inwendig im Galgen hinaufgestiegen / einem Diebe / welcher kurtz zuvor war gehenckt worden / verschneiden / und dieselbe Materie ins Bier haengen wollen / damit die Leute sehr zulauffen / und das Bier desto mehr hohlen solten / hat GOTT der Allmaechtige ihr Fuernehmen sichtiglich gestraffet / daß der Todte Coerper Ihr mit den Fuessen umb den Halß gefallen / und sie so veste gehalten hat / daß / wo nicht Leute / die in der Naehe ihr Weinseln gehoeret / ihr geholffen haetten / sie umbs Leben drueber kommen waere.
Die Leute aber / so zugelauffen / haben des Todten Coerpers Fuesse mit grosser Mueh und Arbeit von einander bringen und die Frau ledig machen koennen. Welches solchen fuerwitzigen Leuthen billig zur Warnung dienen solte.
Ahlemann (Kuhn/Schwartz: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche, 1848)[5]
War einmal ein Mann, der hieß Ahlemann und der hatte eine Frau und vier Kinder. Der wollte einmal gern Lebern eßen, und sagte: "Wenn ich von der Arbeit heim komme, halt sie fertig." Da ging seine Frau in die Stadt und kaufte eine schöne große Leber, und als sie gebraten war und der Mann noch nicht zurückkehrte, da roch ihr der Duft so prächtig zu, daß sie ein so großes Gelüst danach bekam, daß sie sich endlich hinsetzte und sie selber aß. Zuerst aß sie nur en ganz klein Stückchen und dachte: "das merkt er doch nicht!" aber sie schnitt noch ein Stückchen ab und noch eins und endlich war die ganze Leber verschwunden. Da bekam sie große Angst, wie ihr Mann schelten würde, und lief deshalb hin zum Galgen, wo einer baumelte, den sie kürzlich gehängt hatten, dem schnitt sie die Leber aus und briet sie. Als nun Ahlemann nach Hause kam, setzte er sich hin und aß und es schmeckte ihm prächtig; nachher aber ging er fort und mit seinen Kindern zu Biere. Nun wurde es Abend und es war schon ganz dunkel und die Frau lag im Bette, da hörte sie etwas an ihre Kammer kommen und eine Stimme rief: "Wo ist Ah-lemann? Wo ist Ah-lemann?" Da sagte sie:
"Ahlemann ist zu Biere
mit alle viere!"
Aber sie hörte es immer näher kommen und rief in ihrer Herzensangst:
"Komm' Ah-lemann, komm' Ah-lemann
der Grauel geht mir an."
Doch es half alles nichts, mit einemmale stand es vor ihrem Bette und da hat es ihr den Hals umgedreht.
Der Mann vom Galgen (Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 1856)
Eine alte Frau bekommt spät Abends Gäste und hat nichts mehr von Speise über, weiß nicht, was sie ihnen kochen soll, geht zum Galgen, wo ein Todter hängt, schneidet ihm die Leber aus und brät sie den Fremden, welche sie aufessen.
Um Mitternacht klopfts an der Hütte, die Frau macht auf, es ist ein Todter mit kahlem Haupt, ohne Augen und mit einer Wunde im Leib.
„Wo sind deine Haare?“
„Die hat mir der Wind abgeweht.“
„Wo sind deine Augen?“
„Die haben mir die Raben ausgehackt.“
„Wo haste deine Leber?“
„Die hast du gefressen.“
'Ein Gehenkter würgt eine Frau aus Schleiz' (Eisel: Sagenbuch des Voigtlandes, 1871)
In einem Orte bei Schleiz hat sich's Anno 1516 zugetragen, daß ein Weib Morgens früh hinausgegangen, einem Dieb, so vor Kurzem gehängt worden, zu verschneiden. Selbige Materie hat sie in's Bier hangen wollen, damit die Leute sehr zulaufen möchten. Der Allmächtige hat aber ihr Führnehmen sichtiglich gestrafet, denn, da sie hinaufgestiegen, ist ihr der todte Körper mit den Füßen um ihren Hals gefallen und hat sie also festgehalten, daß sie um's Leben kommen wäre, wenn nicht Leute ihr Winseln gehört und zugelaufen wären. Nur mit großer Gewalt, Mühe und Arbeit sind des Todten Füße von einander zu biegen gewesen, daß man die Frau hat ledig machen können.
'Das Rippchen'[6]
Ein Mann ging von einer Hochzeit heim; der Weg führte ihn an einem Galgen vorbei, auf welchem ein armer Sünder hing. Da er vergessen hatte, seinem Weib ein Stück Rippchen, wie er ihr versprochen, mitzubringen, so stieg er an dem Galgen hinauf und schnitt dem Toten ein Stück Rippen ab und brachte sie seiner Frau als Schweinsrippchen. Sie briet und ass dieselben. Des Nachts nun kam der Tote vor ihr Bett und hob mit weinerlicher Stimme an: "Gimmär (gib mir) mini Ripp, gimmär mini Ripp. - Dü hesch i gfrässä!" Das "gimmer mini Ripp" wird mit der größten Ruhe in tiefem, leisem Tone gesprochen, während man bei den Worten: "Du hesch si gfrässä!" mit beiden Händen plötzlich auf eine harmlos Dasitzende zufährt, die dann vor Schrecken beinahe in eine Ohnmacht sinkt.
Lumpl und Leber[7] (Das deutsche Volkslied, 1902)[8]
Es war einmal ein böser Mann, der musste immer Lumpl und Leber zum Nachtessen haben; wenn er vom Hause fortgieng, sagte er jedesmal zu seiner Frau: „Dass ih Lumpl und Leber zum Essen haͦb‘, waͦnn ih ham komm‘, sonst bring‘ ih di um!“ Die Frau sagte darauf: Jaͦ, jaͦ, du wirst schon᷉ ane haͦb’n, und hat es jedesmal verstanden, ihm die so dringend begehrte Speise zu verschaffen. Einmal hat sie aber überall nachgefragt und nirgends eine Leber und Lumpl auftreiben können; traurig ist sie nach Hause gegangen, denn sie hat gewußt, ihr Mann bringt sie wirklich um, wenn er nicht seine gewohnte Speise findet. Wie sie so hingeht, kommt sie beim Galgen vorbei, an welchen sie am selben Tage einen aufgehängt hatten. „Der hat auch eine Lumpl und Leber!“ denkt die Frau, „und wenn ich sie hätt‘, so möcht‘ ih nicht um‘braͦcht werden!“ Sie nimmt den Gehenkten herunter, schneidet ihm Lumpl [104] und Leber aus, trägt sie nach Hause und bereitet sie gut zu. Als der Mann abends kam, ließ er sich das Essen gut schmecken und lobte dasselbe als überaus gelungen.
Mann und Frau gingen schlafen. Als es aber Mitternacht geschlagen hatte, klopfte es an das Fenster und man sah einen Mann in der Finsternis stehen, der den Kopf auf die Brust hängen hatte. „Gib mir mein᷉ Lumpl und Leber!“ sagte er mit dumpfer Stimme zu dem Man im Zimmer, der zum Fenster gekommen war. „Ich hab‘ sie nicht“ erwiderte der. – „Gib mir mei‘ Lumpl und Leber!“ „Ich hab‘ sie nicht, sag‘ ich schon!“ (Mit holer Stimme gedehnt): „Gib mir mein᷉ Lumpl und Leber!“ „Ich hab sie nicht!“ – (plötzlich stark und heftig): „Du hast sie!“[9]
Die gestohlene Leber (Petschel: Volkssagen aus Niedersachsen, 1979)
Vor einigen hundert Jahren ging ein Bauersmann aus Mingerode nach Duderstadt zum Jahrmarkt. In früheren Zeiten hielten die Leute noch viel aufs Jahrmarktgehen, noch mehr aber aufs Einkehren in den Wirtshäusern. Auch dieser Mann freute sich darauf, daß er sich mal einen gemütlichen Tag machen konnte.
Er hatte aber eine Frau, deren Lieblingsspeise frisch gebratene Kalbsleber war. Als er fortgehen wollte, sprach die Frau den Wunsch aus, er möchte ihr doch als Jahrmarktsgeschenk eine Leber mitbringen, was er ihr auch zusagte.
[81] Nachdem der Bauer auf dem Markte im Essen und besonders im Trinken des Guten etwas zu viel getan hatte, trat er den Heimweg an. Es dunkelte schon stark. Als er langsam den Sulberg hinaufschritt, ging eben der Mond auf. Da fiel ihm auf die Seele, daß er ganz und gar vergessen hatte, für seine Frau die Leber zu kaufen. Weil aber sein Weib einen gepfefferten Mund hatte, so wollte er wieder umkehren. Da merkte er jedoch, daß er keinen Pfennig Geld mehr in der Tasche hatte, und er ging weiter den Berg hinauf. Als er eben auf dem Sulberge in die Nähe des Galgens kam, sah er, daß daran ein Mann hing. Der Bauer ging hin, kletterte an dem Galgen hinauf und schnitt den Gehängten ab. Danach schnitt er ihm die Leber aus dem Leibe, wickelte sie ein und wankte nach Hause.
Die Frau hatte schon voll Ungeduld auf ihren Mann gewartet und empfing ihn sehr ungnädig. Als er ihr aber die Leber gab, war sie zufrieden. Sie ging in die Küche, bereitete sich die Leber und aß davon. Dann ging sie zu Bett. Gegen Mitternacht wurde die Frau plötzlich durch ein Geschrei geweckt. Sie richtete sich im Bette auf und hörte fortwährend eine weinerliche Stimme rufen: "Miene Lewern, miene Lewern, miene Lewern!" Als aber der Wächter die erste Stunde rief, war alles ruhig.
In der folgenden Nacht ging es gerade wieder so. Bei Tagesanbruch nahm die Frau ihren Weg nach Obernfeld zum Pfarrer. Der Pfarrer meinte: "Gute Frau, Ihr habt wohl geträumt." Da sie aber bei ihrer Behauptung blieb, so wußte er ihr keinen anderen Rat zu geben, als daß sie fragen sollte, wer denn die Leber hätte.
Als nun in der nächsten Nacht die Frau wieder dasselbe Rufen hörte, fragte sie: "Wei hett denn diene Lewern?" Da bekam sie zur Antwort: "Du hest miene Lewern uppegetten."
Entsetzt sprang die Frau auf und stellte ihren Mann zur Rede. Er machte zuerst allerhand Ausflüchte; zuletzt bekannte er jedoch alles haarklein und bat seine Frau, doch ja über die Angelegenheit den Mund zu halten. Die Frau aber fiel bald in ein hitziges Fieber. Infolge ihrer wirren Reden kam die Sache heraus, und nach einiger Zeit baumelte der Bauer am Galgen auf dem Sulberge.
Verwandtes Erzählgut
Gäste vom Galgen (Grimm: Deutsche Sagen, 1816)[10]
Ein Wirth einer ansehnlichen Stadt reiste mit zwei Weinhändlern aus dem Weingebürge, wo sie einen ansehnlichen Vorrath Wein eingekauft hatten, wieder heim und ihr Weg führte sie am Galgen vorbei und obwohl sie berauscht waren, sahen sie doch und bemerkten drei Gehenkte, welche schon lange Jahre gerichtet waren. Da rief einer von den zwei Weinhändlern: „du, Bären-Wirth, diese drei Gesellen, die da hängen, sind auch deine Gäste gewesen.“ – „Hei! sagte der Wirth in tollem Muthe, sie können heut zu Nacht zu mir kommen und mit mir essen!“ Was geschieht? Als der Wirth also trunken anlangt, vom Pferd absteigt, in seine Wohnstube geht und sich niedersetzt, kommt eine gewaltige Angst über ihn, so daß er nicht [436] im Stande ist, jemand zu rufen. Indeß tritt der Hausknecht herein, ihm die Stiefel abzuziehen, da findet er seinen Herrn halb todt im Sessel liegen. Er ruft alsbald die Frau und als sie ihren Mann mit starken Sachen ein wenig wieder erquickt, fragt sie, was ihm zugestoßen sey. Darauf erzählt er ihr, im Vorbeireiten habe er die drei Gehängten zu Gast geladen und da er in seine Stube gekommen, seyen diese drei in der entsetzlichen Gestalt, wie sie am Galgen hängen, in das Zimmer getreten, hätten sich an den Tisch gesetzt und ihm immer gewinkt, daß er herbei kommen solle. Da sey endlich der Hausknecht hereingetreten, worauf die Geister alle drei verschwunden. Dieses wurde für eine bloße Einbildung des Wirths ausgegeben, weil ihm trunkener Weise eingefallen, was er im Vorbeireiten den Sündern zugerufen, aber er legte sich zu Bett und starb am dritten Tage.
Einladung vor Gottes Gericht (Grimm:Deutsche Sagen, 1816)[11]
Zu Leuneburg in Preußen war ein sehr behender Dieb, der einem ein Pferd stehlen konnte, wie vorsichtig [432] man auch war. Nun hatte ein Dorfpfarrer ein schönes Pferd, das er dem Fischmeister zu Angerburg verkauft, aber noch nicht gewährt. Da wettete der Dieb, er wolle dieses auch stehlen und darnach aufhören; aber der Pfarrer erfuhr es und ließ es so verwahren und verschließen, daß er nicht dazu kommen konnte. Indeß ritt der Pfarrer mit dem Pferd einmal in die Stadt, da kam der Dieb auch in Bettlerskleidern mit zweien Krücken in die Herberge. Und als er merkt, daß der Pfarrer schier wollte auf seyn, macht er sich zuvor auf das Feld, wirft die Krücken auf einen Baum, legt sich darunter und erwartet den Pfarrer. Dieser kommt hernach, wohl bezecht, findet den Bettler da liegen und sagt: „Bruder, auf! auf! es kommt die Nacht herbei, geh zu Leuten, die Wölfe mögten dich zerreißen.“ Der Dieb antwortet: „ach! lieber Herr, es waren böse Buben eben hier, die haben mir meine Krücken auf den Baum geworfen, nun muß ich allhier verderben und sterben, denn ohne Krücken kann ich nirgend hinkommen.“ Der Pfarrer erbarmt sich seiner, springt vom Pferde, gibt es dem Schalk, am Zügel zu halten, zieht seinen Reitrock aus, legt ihn aufs Pferd und steigt dann auf den Baum, die Krücken abzugewinnen. Indessen springt der Dieb auf das Pferd, rennt davon, wirft die Bauerskleider weg und läßt den Pfarrer zu Fuß nach Hause gehen. Diesen Diebstahl erfährt der Pfleger, läßt den Dieb greifen und an den Galgen henken. Jedermann wußte nun von seiner Listigkeit und Behendigkeit zu erzählen.
[433] Einsmals ritten etliche Edelleute, wohl bezecht, an dem Galgen vorbei, redeten von des Diebs Verschlagenheit und lachten darüber. Einer von ihnen war auch ein wüster und spöttischer Mensch, der rief hinauf: „o du behender und kluger Dieb, du mußt ja viel wissen! komm auf den Donnerstag mit deinen Gesellen zu mir zu Gaste und lehre mich auch Listigkeit.“ Deß lachten die andern.
Auf den Donnerstag, als der Edelmann die Nacht über getrunken hatte, lag er lang schlafend, da kommen die Diebe Glocke neun des Morgens mit ihren Ketten in den Hof, gehen zur Frau, grüßen sie und sagen, der Junker habe sie zu Gast gebeten, sie solle ihn aufwecken. Dessen erschrickt sie gar hart, geht vor des Junkers Bett und sagt: „ach! ich habe euch längst gesagt, ihr würdet mit euerm Trinken und spöttischen Reden Schande einlegen, steht auf und empfanget eure Gäste;“ und erzählt, was sie in der Stube gesagt hätten.
Er erschrickt, steht auf, heißt sie willkommen und daß sie sich setzen sollten. Er läßt Essen vortragen, so viel er in Eile vermag, welches alles verschwindet. Unterdessen sagt der Edelmann zu dem Pferdedieb: „lieber, es ist deiner Behendigkeit viel gelachet worden, aber jetzund ist mirs nicht lächerlich, doch verwundert mich, wie du so behend bist gewesen, da du doch ein grober Mensch scheinest.“ Der antwortet: „der Satan, wann er sieht, daß ein Mensch Gottes Wort verläßt, kann einen leicht behend machen.“ Der [434] Edelmann fragte andere Dinge, darauf jener antwortete, bis die Mahlzeit entschieden war. Da stunden sie auf, dankten ihm und sprachen: „so bitten wir euch auch zu Gottes himmlischem Gericht, an das Holz, da wir um unserer Missethat willen von der Welt getödtet worden: da sollt ihr mit uns aufnehmen das Gericht zeitlicher Schmach und dies soll seyn heut über vier Wochen.“ Und schieden also von ihm.
Der Edelmann erschrack sehr und ward heftig betrübt. Er sagte es vielen Leuten, der eine sprach dies der andere jenes dazu. Er aber tröstete sich dessen, daß er niemanden etwas genommen und daß jener Tag auf Allerheiligen-Tag fiel, auf welchen um des Fests willen man nicht zu richten pflegt. Doch blieb er zu Hause und lud Gäste, so etwas geschähe, daß er Zeugnis hätte, er wäre nicht auskommen. Denn damals war die Rauberei im Lande, sonderlich Gregor Maternen Reiterei, aus welchen einer den Hauscomthur D. Eberhard von Emden erstochen hatte. Derhalben der Comthur Befehl bekam, wo solche Reiter und Compans zu finden wären, man sollte sie fangen und richten, ohn einige Audienz. Nun war der Mörder verkundschaftet und der Comthur eilte ihm mit den seinigen nach. Und weil jenes Edelmannes der letzte Tag war und dazu Allerheiligen-Fest, gedacht er, nun wär er frei, wollte sich einmal gegen Abend auf das lange Einsitzen etwas erlustigen und ritt ins Feld. Indessen als seiner des Comthurs Leute gewahr werden, däucht sie, es sey des Mörders Pferd und Kleid und reiten [435] flugs auf ihn zu. Der Reuter stellt sich zur Wehr und ersticht einen jungen Edelmann, des Comthurs Freund und wird deshalb gefangen. Sie bringen ihn vor Leuneburg, geben einem Litthauen Geld, der hängt ihn zu seinen Gästen an den Galgen. Und wollte ihm nicht helfen, daß er sagte, er käme aus seiner Behausung erst geritten, sondern muß hören: „mit ihm fort, eh andere kommen und sich seiner annehmen, denn er will sich nur also ausreden!“
Anmerkungen
- ↑ Die Sage ist als erster Text unter der marginalisierten Überschrift "Zwo seltzame geschicht, deren eine am galgen, die ander uff dem kirchhoff zum Hof sich zugetragen" aufgeführt und wird implizit auf 1516 datiert. Zum Text der zweiten Geschichte vgl. Geisterkirche (Erzählstoff).
- ↑ Den entsprechenden Aberglauben fasst Grässe mit Verweis auf die Fassung 'Ein Gehenkter würgt eine Frau aus Schleiz' zusammen: "Will ein Brauer viel Abgang haben, so verschafft er sich den Strick eines Gehängten, an dem aber der Daumen besselben noch hängt. und legt ihn in's Bierfaß. Einmal ist im Jahre 1516 in einem Orte bei Schleitz eine Frau zu diesem Zwecke früh hinaus nach dem Galgen gegangen, um dieses Experiment vorzunehmen, da ist ihr aber der todte Körper mit den Füßen um den Hals gefallen und hat sie so festgehalten, daß sie sicher gestorben wäre, wenn nicht auf ihr Hülferufen Leute herbeigeeilt wären und sie erlöst hätten." (Grässe, Theodor: Bierstudien. Dresden 1872, S. 119).
- ↑ Die Sage ist als erster Eintrag zum Jahr 1516 aufgeführt.
- ↑ Die vorausgehende Memorabile im Jahr 1515 ist in Schleiz situiert
- ↑ Quellennachweis: "Aus der Gegend von Cottbus durch Herrn Professor Jungk."
- ↑ In der Einleitung in Ottenheim situiert. Nochmals unter dem Titel "Das Rippchen" abgedruckt in Peuckert, Will-Erich (Hg.): Deutsche Sagen, Band 2, S. 117f.
- ↑ Anmerkung: „Lumpl aus Lunpl, Lungel, Lunge.“
- ↑ Das deutsche Volkslied 4, Nr. 7 (1902), S. 103f. (online).
- ↑ Quellennachweis: „Erzählt von Karl Kronfuss, a. – 29./4. 1902. Die Geschichte vom „Lumpl und Leber“ ist auch belegt von Herrn Alfred Wolfram, a., der sie von seiner über 90 Jahre alten Großmutter, gebürtig aus Raabs in N.Ö. erzählen gehört hat, - von Herrn Rudolf Wolf, a., aus Guntramsdorf und von Herrn Anton Baumann, a., dessen Vater, aus Joachimsthal in Böhmen gebürtig, sie ihm erzählt hat.“
- ↑ Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsche Sagen, Band 1, S. 435f. Quellennachweis: "Bräuner’s Curiositäten S. 296–298.".
- ↑ Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsche Sagen, Band 1, S. 431-435. Quellennachweis: "Casp. Henneberg chronikon Prussiae p. 254. Prätorius Weltbeschr. I. 285–288.".