Jauß, Hans Robert: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur

Aus Brevitas Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Zitation

Jauß, Hans Robert: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. In: Jauß, Hans Robert: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976. München 1977, S. 9-47

Online: [[1]]

Beschreibung

Epochaler Aufsatz, der das Alteritäts-Paradigma begründet hat.

Inhalt

  • Vorschlag zur Begründung des gegenwärtigen Interesses an mittelalterlicher Literatur
    • Das Studium der mittelalterlichen Literatur hat seinen Rang im Bildungskanon eingebüßt, stand lange abseits moderner Trends der Theoriebildung und ist im öffentlichen wie universitären Ansehen stark angegriffen; dies gibt die Chance zur Neubegründung des Faches (9)
    • Diese Neubegründung erfolgt auf der Basis eines noch nicht abgeschlossenen Paradigmenwechsels (9f.)
    • Aufgrund der gegenwärtigen Theoriekrise soll das Interesse an mittelalterlicher Literatur mit drei Gründen hermeneutisch gerechtfertigt werden (10)
      • Das ästhetische Vergnügen mittelalterlicher Texte (prähermeneutische Erfahrung) (10)
      • Die befremdende Andersheit mittelalterlicher Texte (methodisch zu begegnen mit der Rekonstruktion des Erwartungshorizonts der ursprünglichen Adressaten) (10)
      • Der Modellcharakter mittelalterlicher Texte: Horizontverschmelzung nach Gadamer: „Im Durchgang durch die Befremdung der Andersheit muß ihr möglicher Sinn für uns gesucht, die Frage nach der historisch weiterreichenden, die ursprüngliche kommunikative Situation übersteigenden Bedeutung gestellt werden“ (10)
  • Ästhetisches Vergnügen an mittelalterlichen Texten
    • Die epochebedingten Züge mittelalterlicher Literatur, die das Vergnügen oft erschweren: Vorrang der Konvention über den Ausdruck, Unpersönlichkeit des Stils, Formalismus der Lyrik, Traditionalismus der Epik, Vermischung des Poetischen mit dem Lehrhaften, schwer entschlüsselbare Symbolik (11f.)
    • Ein unmittelbares Vergnügen scheint es heute nur noch bei den Werken zu geben, die auf ein vorchristliches und nichtantikes Erbe zurück gehen, der am wenigsten orthodoxe Textbereich (12)
    • Robert Guiette differenziert den historischen rezeptionsästhetischen Reiz nach Gattungen (12):
      • Liturgisches Drama (kultische Partizipation)
      • Geistliches Spiel (Schaubedürfnis, Erbauung)
      • Legende (Staunen, Rührung, Erbauung)
      • Chanson de geste (Bewunderung, Mitleid)
      • Symbolische Dichtung (Entschlüsselung des Sinns)
      • Roman (Lust am Ungelösten)
      • Fabliau (Schwank) (Unterhaltung, Erheiterung)
      • Höfische Lyrik (Genuss der formalen Variation)
    • Für den modernen, Neues gewohnten Leser bedeutet es eine Umkehrung seiner ästhetischen Erwartungen, wenn er Altbekanntes genießen soll (13)
    • Wenn dem modernen Leser der Zugang des unmittelbaren Vergnügens versagt bleibt, gesinnt er zweierlei:
      • Eine ästhetische Brücke zu einer fremden Lebenswelt (13)
      • Kontrastive Erfahrung, dass auch Wiedererkennen ästhetisch ist (13)
  • Einführung des hermeneutischen Begriffs der Alterität
    • Befremdung durch Alterität bestimmt die Debatte um Paul Zumthors Essai de poétique médiévale und fußt auf der Sprachtheorie Eugenio Coserius (14)
    • Hinsichtlich der mittelalterlichen Literatur entsteht eine gedoppelte Struktur des Diskurses: Der Gegenstand erscheint in befremdender Andersheit, ist zugleich als ästhetischer Gegenstand auf ein anderes verstehendes Bewusstsein bezogen und ermöglicht auch mit einem nicht mehr zeitgenössischen Adressaten Kommunikation (14)
    • Das philologische Ideal nach dem Buchdruck setzt literarische Tradition gleich mit gedruckter Überlieferung, was die Existenz einer hörenden Rezeption weitgehend übersieht; daneben wird das Buch zum Werk eines Schöpfers. Diese Selbstverständnisse fundieren die grundlegende Alterität des Mittelalters (15)
    • Die Mündlichkeit mittelalterlicher Literatur ist ein Aspekt der Alterität, die keine hermeneutische Anstrengung voll zu gegenwärtigen vermag. Moderne Massenmedien rücken die mittelalterliche Erfahrung einer nicht durch das Buch vermittelten Dichtung näher, dennoch kann sich der moderne Hörer nicht ganz in ein vorschriftliches Bewusstsein hineinversetzen (16)
    • Das Vergnügen eines mittelalterlichen Lesers mit serieller Literatur ist vergleichbar mit dem modernen Vergnügen, einen Kriminalroman zu lesen: Beide Male muss die Welt des Einzelwerks verlassen werden, um im intertextuellen Rahmen Variation eines festen Grundmusters zu sehen; Text ist hier nicht identisch mit Werk (16)
      • Problem der Einheit des Rolandsliedes: Die Suche nach dem einen Original entpuppte sich als Sackgasse. die altromanische Epik existiert in einer fließenden Überlieferung, die nicht zwischen Original und verderbten Varianten unterscheidet. Im Vortrag schafft jede Aufführung eine unterschiedliche Gestalt des Textes, was im Chanson de Geste in Raten mit Fortsetzungsstruktur dem Publikum dargeboten wird (17)
      • Offenheit der epischen Fabel: Beim Reinhard Fuchs existieren 8 Umerzählungen, die das mittelalterliche Publikum als Fortsetzungsfolge wahrgenommen werden kann (17)
      • Die Ästhetik der Varianz gilt auch bei der lateinischen Dichtung des hohen Stils (17), beim geistlichen Spiel und der Lyrik (18)
  • Alterität des mittelalterlichen Weltmodells
    • Der historischen Rückschau erscheint die Situation des mittelalterlichen Menschen sowohl traditionsbeladen als auch archaisch, gleich weit entfernt von Mythen und Ritualen primitiver Lebensformen wie von den Systemen und Rollen moderner Gesellschaft (19)
    • Entgegen der romantischen Erwartung ist der ma Mensche kein Wanderer und Träumer, sondern ein Systematiker für die gesamte Welt (19)
    • Die hierarchische Stufung der Wesen im ma steht der Evolutionslehre entgegen: Die ma Kosmologie setzt, dass die vollkommenen Dinge den unvollkommenen vorausgehen, was die Evolutionslehre umdreht (19f.)
    • Lewis’ alteritäres Weltverständnis des Mittelalters wird bei Borsts Lebensformen des Mittelalters ausgeführt; seine These: Das Mittelalter ist ein paradigmatisches Zeitalter verwirklichter Lebensformen, während die Antike Lebensformen als ethische Forderungen und die Moderne als belanglosen Zustand ansieht (20)
    • Die Literatur stellt dabei neben der Religion eine Möglichkeit der Kontingenzbewältigung dar, jenseits von Affirmation und Negation des religiösen Weltbildes (21)
  • Gegenwärtige Ansätze zu einer Erneuerung der Mediävistik
    • Modernität in der Alterität als neues Frageinteresse
      • Die Erneuerung der mediävistischen Literaturwissenschaft besitzt als gemeinsames Frageinteresse den Versuch, die Modernität mittelalterlicher Literatur in ihrer Alterität zu entdecken (25)
      • Modernität meint die Erkenntnis einer Bedeutung mittelalterlicher Literatur, die nur im reflektierten Durchgang durch ihre Alterität zu gewinnen ist (25)
    • Tierdichtung als Schwelle zur Individuation
      • Die Tierepen um Renart lassen eine Schwelle der Individuation im Vergleich zu ihren antiken Vorbildern der Fabel erkennen: Die Fabel reduziert das ideale geistige Sein des Menschen auf seine kreatürliche Natur und bildet sie auf den Tieren ab; gleichzeitig wird durch die Eigennahmen und der Regel, jede Tierart nur einmal zu besetzen, der Anschein von Individualität erweckt (27)
      • Da der Artcharakter der Tiere nicht objektiv ist, müsste er aus historisch sich wandelnden menschlichen Selbstauslegungen resultieren (27)
      • Die Form der Individualität der Tiere ist zwar typologisch, dennoch ist die der Beginn einer Individualisierung (27f.)
      • Den Weg von diesem Beginn einer Individualisierung bis heute nachzuzeichnen ist eine der reizvollsten Perspektiven auf das MA (28)
    • Allegorische Dichtung als Poesie des Unsichtbaren
      • Es stellt sich die Frage, ob bei diesem spröden Textbereich das wiedererweckte historische Verständnis wieder in ein ästhetisches Interesse umgesetzt werden kann (29)
      • Der allegorische Modus ist die Vorstellung unsichtbarer, vergangener und unsichtbarer Dinge; ihr christlicher Ursprung liegt in den paulinischen Sätzen, dass Gottes Wesen unsichtbar, aber in der Schöpfung erkennbar sei (Röm 1,20), dass der Mensch auf unsichtbarem Schauplatz den Kampf Leib gegen Seele bestehen müsse (Gal 6,17), dass der Mensch mit unsichtbaren Mächten zu kämpfen habe (Eph 6,12). In der Fortschreitenden Verbildlichung dieser drei Sphären liegt der größte Unterschied zwischen Antike und Mittelalter (29)
      • Der ästhetische Kanon der Transzendenz erhielt dort seine schärfste Zuspitzung, wo die Beziehung zwischen der Präsenz des Sichtbaren und der Evidenz des Unsichtbaren die Möglichkeit sinnfälliger Darstellung überstieg: Die Verknüpfung von Grausigem und Erbaulichem z.B. in der Hagiographie (32)
      • Mitleiden mit der gequälten Kreatur bleibt den Heiden vorbehalten, die sehen ohne zu erkennen, während vom Christen erwartet wird, sich über das Gegenwärtige hinwegzusetzen und angesichts der Herrlichkeit Gottes Erbauung zu finden (32)
      • Die Epochenwende zwischen antiker und christlicher Literatur liegt nach Jean Paul an der christlichen Abkehr von der Sinnenwelt, die dem poetischen Geist nur noch die innere Welt übrig ließ, was sich in der allegorischen Rede niederschlug (32f.)
    • Die kleinen Gattungen des Exemplarischen als literarisches Kommunikationssystem
      • Die narrativen Kursformen erscheinen im MA zumeist als literarische Gattungen exemplarischer Rede; sie vermitteln eine religiöse Wahrheit oder eine profane Lehre (37)
      • Jolles unterscheidet neun einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (40)
      • Von diesen 9 Formen sind im MA nur Spruch, Legende, Märchen, Witz und Kasus existent. Daraus ist zu schließen, dass die einfachen Formen im 12. Jhd. noch auf dem Weg der Verselbständigung sind, die sie erst bei Boccaccio erreichen (41)
      • Die Säkularisierung der Legende ist am Sportbericht abzulesen, der als moderne Legende betrachtet werden kann; analog: Sprichwort als Werbeslogan, Fabel in der politischen Rede, Exempel als Kalendergeschichte, Märchen als neue Glückswelten (41)