Köhler, Ines: Geistermesse
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Zitation
Köhler, Ines: Geistermesse. In: Ranke, Kurt/Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Enzyklopädie des Märchens, Band 5, Sp. 933-939
Beschreibung
Lexikonartikel zu Geisterkirche (Erzählstoff).
Inhalt
- Drei Ausprägungen der v.a. in Europa im 19.und 20. Jahrhundert belegten Sage:
- „Ein Lebender (oft eine Frau) meint, den Frühgottesdienst verschlafen zu haben, und eilt in die hell erleuchtete, bereits mit vielen Unbekannten gefüllte Kirche. Auch der Prediger ist ein Fremder. Während des Gottesdienstes warnt ein Nachbar (eie vor einiger Zeit verstorbene Bekannte) den Lebenden und rät ihm, die Kirche zu verlassen. Voller Schrecken flieht er, hinterläßt den ihn verfolgenden Toten oft ein Kleidungsstück (Kleiner Fehler, kleiner Verlust) und entkommt gerade noch, bevor die Kirchentür donnernd zuschlägt. Das Kleidungsstück wird am nächsten Morgen in zahllose Fetzen zerrissen auf den Gräbern gefunden. Häufig erkrankt der Zeuge der G. und stirbt bald danach.“ (933) – verbreitet v.a. in Mittel- und Nordeuropa.
- „Die Teilnahme an der G. wird mit den gleichen Umständen wie in der 1. Textgruppe motiviert; als weitere Termine kommen Allerheiligen, Allerseelen und der Tag bestimmter Heiliger hinzu. Dem zufälligen Besucher erscheint (oft auch ohne die Anwesenheit anderer Totengeister) ein Priester, der fragt, ob jemand willens sei, das Abendmahl zu empfangen (zu ministrieren). Der Lebende erklärt sich bereit (manchmal erst bei einem zweiten Besuch nach Rücksprache mit einem Geistlichen), wird gesegnet und erfährt vom Geisterpriester: Er habe keine Ruhe gefunden, da er eine zu Lebzeiten versäumte Messe nachholen mußte, nun sei er erlöst. Oft stirbt der Besucher nach diesem Geschehen.“ (934) – verbreitet v.a. in Frankreich und aus katholischen Regionen des deutschsprachigen Gebiets.
- Kleinere Gruppe, die die Geisterkirche als herrlich beschreibt: „Belege für eine Verherrlichung der G., für wunderbare aus der Kirche dringende Musik und für messefeiernde Engel und Heilige liegen vor allem aus dem Aplenraum, bes. aus der Schweiz, vor.“ (935)
- Kombination mit zahlreichen anderen Sagen: Totenprozession (Thompson, Stith (Hg.): Motif-index of folk-literature, E 491), Das unruhige Grab (Aarne, Antti/Thompson, Stith (Hg.): The Types of the Folktale, 760), Sünde und Gnade (Aarne, Antti/Thompson, Stith (Hg.): The Types of the Folktale, 755) (934f.)
- Tradierungsgeschichte bis ins 4. Jhd. n. Chr. bei Theodor, Abt von Parbau; Korbinian; Mirakelberichte; Predigtexempel; Gregor von Tours; Thietmar von Merseburg (935f.)
- Im ausgehenden Mittelalter Aufnahme ins Speculum exemplorum (3, 64: Tote beten für ihre Wohltäter) und Niederschlag in einem Altarbild des Berner Münsters von 1506, Johannes von Nepomuk. (636)
- „Nach den bisher vorliegenden frühen Belegen muß diese ältere G.-Tradition dem Legendenbereich zugerechnet werden. Ein Bedeutungs- und Funktionswandel scheint erst nach der Reformation einzusetzen, der u.a. durch einen Wechsel der Trägerschicht aus dem kirchlichen Bereich in Laienkreise erklärt werden kann. Charakteristisch für den entstehenden Sagentyp ist ein Text in der Chronik von Enoch Widmann (gest. 1615), der den ersten Beleg für das Entkommen des Teilnehmers durch Zurücklassen eines Kleidungsstücks bietet, das von den Toten zerfetzt wird. Bestimmend ist hier die Aggressivität der Toten gegenüber den Lebenden, der teilnehmende Mensch rückt in den Mittelpunkt des Geschehens, die Erfahrungen des Numinosen als Moment des Fascinosum ist dem des Tremendum gewichen. Abgesehen von den die G. verherrlichenden und damit Legendenzüge bewahrenden Texten verbanden sich allg. immer stärker Elemente des Volksglaubens mit der Erzählung – wie nichtchristl. Vorstellungen vom Recht der Toten oder von Wiedergängern, die Versäumtes nachholen müssen. Die Legende formierte sich zu einer Frevel- und Totensage.“ (936f.)