Lorbeer, Ölbaum, Lärche, Palme und Feigenbaum (Erzählstoff)

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Lorbeer, Ölbaum, Lärche, Palme und Feigenbaum

(Erzählstoff)

Regest Lorbeer, Ölbaum, Lärche (Orangenbaum / Buchsbaum) und Palme erklären dem Feigenbaum, warum sie auch im Winter ihr Grün behalten. (Dicke, Gerd/Grubmüller, Klaus: Die Fabeln des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 480)
Fassungen Buch der natürlichen Weisheit (Ulrich von Pottenstein), Nr. I, 27
Buch von der Weisheit, Nr. I, 27
Spiegel der wyßheit (Sebastian Münster), Nr. I, 27, Bl. 24r-v
Spiegel der natürlichen weyßhait (Daniel Holzmann), Nr. 27, Bl. 102r-105r
Forschung
(s.a. unter Fassungen)
Dicke, Gerd/Grubmüller, Klaus: Die Fabeln des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 480; Günthart, Romy (Hg.): Sebastian Münster, Spiegel der wyßheit, Band 2, S. 51f. Wagner, Silvan: Die komplexe Meditation einfacher Wahrheiten


Lateinische Version (Cyrillus, Nr. I, 11), 1. Hälfte 14. Jhd.

Die deutsche Tradition baut auf einer lateinischen Quelle auf (Cyrillus, Nr. I, 27 (Grässe, Johann Georg Theodor (Hg.): Die beiden ältesten lateinischen Fabelbücher des Mittelalters. Tübingen 1880, S. 35)).

Cyrillus: Speculum Sapientiae[1] Übersetzung[2]

In bono nomine virtutum tetragono semper vige
Inter laurum, olivam, arangium atque palmam ficus exorta cum succedente hieme illis solita viriditate vigentibus suis ipsa foliis velut arida nudaretur, non minus quidem mox confusa quam livida vicinis taetro vultu querulam proposuit quaestionem: „Ut quid semper viridia folia retinetis et transacto fructu frondes inutiles iam fovetis? Num forte umbrabilis apparentia complacet et spreta substantia cortex mulcet?“ At illae pruritum invidentiae sentientes spinam verbi risu patientiae confregerunt. Tandem igitur ad veritatem loquentibus iliis prima respondit laurus: „Ego quidem complexione iuvata concalui et idcirco frigiditate repulsa in me folium semper vivit.“ Tunc oliva subiunxit: „Nimirum in me humor pinguedinis supercrescit, quo exundans radix suas in perpetuum frondes nutrit.“ Mox arangius inquit: „Solidior namque substantia me componit, unde in me bene tenta viriditas numquam perit.“ Sic et palma finaliter addidit: „In me quidem folium exaruit numquam, quoniam huiusmodi moderatum germinavi.“ Post hoc autem laurus vice omnium eloquens dixit: „Non audisti, quare sapiens numquam ponit clari nominis venustatem? Nimirum quia claritate prudentiae, largitate iustitiae, firmitate constantiae, parcitate modestiae semper viget, se ipsum dirigit, nullum laedit, in adversis non deficit et in prosperes non mollescit. Igitur his virtutibus, quattuor ancoris suae mentis, in portu sapientiae ratem figit; quamobrem numquam eum mundialis fluctus tempestatis eludit.“ Quo dicto quieverunt.

Lebe immer im Sinne der vier Kardinaltugenden
Ein Feigenbaum, der zwischen Lorbeer, Olivenbaum, Orangenbaum und Palme aufwuchs und dort im folgenden Winter seiner Blätter beraubt war, als ob er verdorrt wäre, während jene im gewohnten frischen Grün standen, war sogleich ebenso verlegen wie neidisch auf seine Nachbarn und trug mit finsterer Miene folgende Frage und Klage vor: „Warum behaltet ihr immer eure grünen Blätter und tragt nach der Ernte eurer Früchte noch unnützes Laub? Gefällt euch etwa die schattenbringende Erscheinung und erfreut euch die Baumrinde, nachdem die Substanz entfernt wurde?“ Aber jene spürten den bohrenden Neid und nahmen mit nachsichtigem Lachen dem Wort den Stachel. Da sie entsprechend der Wahrheit redeten, antwortete schließlich der Lorbeer als erster: „Durch eine schützende Oberfläche halte ich mich durch und durch warm, und das Blattgrün lebt immerzu in mir, nachdem die Kälte abgehalten wurde.“ Da bemerkte der Olivenbaum: „In mir entsteht sicherlich eine fetthaltige Flüssigkeit, mit welcher die Wurzel das immergrüne Laub reichlich ernährt.“ Dann sagte der Orangenbaum: „Ich bin von solider Beschaffenheit, deshalb kommt das dichte Grün in mir niemals abhanden.“ Und so fügte schließlich die Palme an: „In mir ist niemals ein Blatt vertrocknet, da ich so maßvoll ausgetrieben habe.“ Danach aber sprach der redegewandte Lorbeer für alle: „Hast du nicht gehört, daß der Weise sich niemals mit dem Schmuck eines berühmten Namens umgibt? Sicherlich deswegen, weil er immer mit dem Ruhm der Klugheit, mit der Gabe der Gerechtigkeit, der Stärke der Beständigkeit und der Genügsamkeit der Bescheidenheit lebt, sich selbst lenkt, niemanden verletzt, im Unglück nicht aufgibt und im Glück nicht verweichlicht. Durch diese vier Tugenden, diese vier Anker seines Geistes, macht er sein Schiff im Hafen der Weisheit fest; deshalb treibt die Sturmflut in dieser Welt niemals ihr Spiel mit ihm.“ Nach diesen Worten beruhigten sie sich.

Deutsche Versionen

Buch der natürlichen Weisheit (Ulrich von Pottenstein), Nr. I, 27 (nach Druck Augsburg 1490)

Ein guotter leumunde gruonet allzeit in den vier angeltugenten·
Das· xxvi ·Capitel·

[29vb] ES entsprang und wuochs ein feygenpaum da zwischen vier paumen· Der erst waz ein lorberpaum· Der and(er) was ein oelpaume· Der drit was ein Lerpaum Der vierd waz ein palmpaum Do die yeczgenannten paeum d(er) scharpf wi(n)ter begraif da behielten sy ire gruene plette / aber der feyge(n)baum ward seiner bleter gancz embloesset· und erschin in dürrer gstalt dz schaempt er sich dz uebet in zuo neid· In dez neyde fraget er sein nachpaurn ein neidige frag also· Wes behalt ir in grymmer kelt eur gruene bleter so doch die frucht vor langer zeite v(er)gange(n) ist· ich will nit and(er)st in meim synn oder euch geuall [30ra] in ruomes weiß geleyssender schein unnd die sichtig gruene d(er) rinden und der pletter dye bri(n)g euch lust on allen nucz der fruchte· Nun verstuonden sy das neydige hecken: sy czerbrachen das dornig ward mit gedultigez lachem· unnd besprachen sich wydereinander Darnach sprache d(er) lorberpaum Ich bi(n) in vester hycze gewachssen· Auch mocht mich kein frost geirren / wann Ich trib alle kelte von mir / darumb so lebend meine pletter allzeytt Darnach sprach d(er) oelpaum wes wundert dich / waißt du nichtt / das veste feuchtigkeit allzeit in mir wachsset mit der mein wolgefeuchte wurczen ire pleter su(m)mer und wintter neren· Darnache sprach der Lerpaum Ich bi(n) eins vesten wesens und wachß in vestem staingeschirr· und die selb vestigkeyt entweicht nicht vonn mir / darumbe beleibt mir mein gruene· Darnach sprach d(er) palmbaum· umb mein wurcze(n) ward daz erdtrich nie dürr / darumb beleibent meine pletter alzeit gruen· Nun nam sich der lorberbaum für die andern sein gesellen an und sprach ire wort in soellicher maß· Du dürrer feigenpaum hastu nie gehoert waru(m)b ein weyser man seinen name(n) nit erhebt mit klarem ruom· das tuot [30rb] er darumbe das er alle zeit keyn ander leben fueret dann in klarer weißheit In milter gerechtikeit wann dye verzeuhet er keinem mann in bestandner unnd vester großmuetigkeyt unnd in geleycher maessigkeyt· Er laidt sich selber er laydiget niemandtt· Er beleybet vest in widerwertigkeyt unnd in der hoehe seins gelückes erzayget er niemant kei(n) fraeuel· Auch verhefftet er dz schiflin seines herczen mit dem angel der vier angeltugend an de(m) gestalt der weyßheyt so veste dz es alle ungewitter der weltlichen flüß weder zerrütten noch abgelesen mügend· Darmit name dye red ein ende Amen·


Anmerkungen