Das Schneekind (Erzählstoff)
Das Schneekind; Modus Liebinc; Glacies Ißschmarr hieß das Kind (Erzählstoff) | |
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Regest | Ein Kaufmann wird bei seiner Rückkehr nach einer Reise von seiner Frau mit einem jungen Kind empfangen. Sie behauptet, dass das Kind entstanden sei, nachdem sie in Sehnsucht nach ihrem Mann Schnee im Garten gegessen habe. Der Mann lässt dem Kind eine gute Erziehung angedeihen, verkauft es bei einer weiteren Reise aber an Händler (an Heiden). Seiner Frau erklärt er, dass das „Schneekind“ im Sturm zu Wasser geworden sei (im Wüstensand unter der Sonne zerschmolzen sei). |
Fassungen | Das Schneekind A Das Schneekind B Schimpf und Ernst (Johannes Pauli), Nr. 208 |
Forschung (s.a. unter Fassungen) |
Schupp, Volker: Modus Liebinc |
Lateinische Version
Die deutschen Fassungen basieren auf einer seit dem 11. Jhd. belegten lateinischen Erzählung (Modus Liebinc).
Modus Liebinc:[1]
1a
Advertite,
omnes populi,
ridiculum
et audite, quomodo
Suevum mulier
et ipse illam
defraudaret.
1b
Constantiae
civis Suevulus
trans aequora
gazam portans navibus
domi coniugem
lascivam nimis
relinquebat.
2a
Vix remige
triste secat mare,
ecce subito
orta tempestate
furit pelagus,
certant flamina,
tolluntur fluctus,
post multaque exulem
vagum littore
longinquo notus
exponebat.
2b
Nec interim
domi vacat coniux;
mimi aderant,
iuvenes secuntur,
quos et immemor
viri exulis
excepit gaudens;
atque nocte proxima
pregnans filium
iniustum fudit
iusto die.
3a
Duobus
volutis annis
exul dictus
revertitur.
Occurrit
infida coniux
secum trahens
puerulum.
Datis osculis
maritus illi
"De quo", inquit, "puerum
istum habeas,
dic, aut extrema
patieris."
3b
At illa
maritum timens
dolos versat
in omnia.
ʺMiʺ, tandem,
ʺmi coniuxʺ, inquit
ʺuna vice
in Alpibus
nive sitiens
extinxi sitim.
Inde ergo gravida
istum puerum
damnoso foetu,
heu gignebam.ʺ
4a
Anni post haec quinque
transierunt aut plus,
et mercator vagus
instauravit remos;
ratem quassam reficit,
vela alligat
et nivis natum
duxit secum.
4b
Transfretato mari
producebat natum
et pro arrabone
mercatori tradens
centum libras accipit
atque vendito
infante dives
revertitur.
5a
Ingressusque domum
ad uxorem ait:
ʺConsolare, coniux,
consolare, cara:
natum tuum perdidi,
quem non ipsa tu
me magis quidem
dilexisti.
5b
Tempestate orta
nos ventosus furor
in vadosas sirtes
nimis fessos egit,
et nos omnes graviter
torret sol, at il‐
le nivis natus
liquescebat.ʺ
6
Sic perfidam
Suevus coniugem
deluserat;
sic fraus fraudem vicerat:
nam quem genuit
nix, recte hunc sol
liquefecit.
Synopse deutscher Versionen
Das Schneekind A (vor 1280)[2] | Das Schneekind B (Ende 14. Jhd.?)[3] | Schimpf und Ernst (Johannes Pauli), 208 (1522)[4] | Hans Sachs, ??? |
Ez het ein koufman ein wip, |
Kain laster er gesat, |
Glacies Ißschmarr hieß das Kind. Es was ein Kaufman zů Venedig, der fůr etwan uß und bleib ein Jar oder drü uß, als da man in die Heidenschafft fert. Und uff einmal was er so lang ußgewesen; da er widerumb kam, da fand er ein hübsch Kneblin in seinem Huß lauffen, das het ein weiß Härlin. Der Man sprach: ›Wes ist das Kneblin? Das ist doch warlich ein hübschs Kindlin.‹ Die Frau sprach: ›Hußwirt, es ist mein. Sol ich dir nit grose Ding sagen, wie es mir mit dem Kind ist ergangen? In dem Winter bin ich in den Garten gangen und hab an dich gedacht also mit groser Begird, das ich bei dir bin gewesen, und hab ein Yßschmarren von dem Dach da herabgenumen und hab in gessen, und ist das Kind daruß worden. Das zů einem Zeichen so heißt es Glacies Yßschmarren.‹ Der gůt Man schweig stil und wolt nit vil daruß machen; wan wen ein Man sein Eefrawen schent, so ist er vor geschent. Er gedacht auch: ›Werestu bei ir gewesen, so wer semlichs nit geschehen. Hastu anderßwa fremde Heffelin zerbrochen, so hat sie daheim Krüg zerbrochen.‹ Der Yßschmarren wůchs also uff und ward groß. Der Vatter sprach einmal zů seiner Frawen: ›Wie rietestu, wan ich unsern Glacies Yßschmarren einmal mit mir nem, das er auch etwas lert?‹ Die Frawe sprach: ›Du můst aber Sorg zů im haben.‹ Der Man fürt in mit im hinweg und verkaufft es uff dem Mer. Und nach langem, da er widerumb heimkam, da kam das Kind nit. Die Frau sprach: ›Ach, wa hastu den Yßschmarren hingethon, unser Kind?‹ Der Man sprach: ›Es ist mir seltzam mit dem Kind Yßschmarren ergangen. Es ist uff einen Tag über die Maß heiß gewesen, da wir uff dem Mer sein gefaren. Und ich hab im verbotten, das er nit barhaupt in dem Schiff solt sitzen, und es hat es nit gethon, und hat in die Sonn so heiß gestochen uff sein Haupt, das es zerschmoltzen ist und ist in das Mer geflossen. Und wie es von dem Wasser ist kumen, also ist es widerumb zů Wasser worden.‹ Also betriegen die Eelüt einander in der Ee. |
Text 3 |
Anspielungen
Anmerkungen
- ↑ Zitiert nach Strecker, Karl: Die Cambridger Lieder: Carmina Cantabrigiensia. Berlin 1926, Nr. 14, S. 41-44.
- ↑ Zitiert nach Grubmüller, Klaus (Hg.): Novellistik des Mittelalters, S. 82-93
- ↑ Zitiert nach Grubmüller, Klaus (Hg.): Novellistik des Mittelalters, S. 82-93
- ↑ Zitiert nach Bolte, Johannes (Hg:): Johannes Pauli: Schimpf und Ernst, Band 1, Nr. 208