Rose, Lilie und Feigenbaum (Erzählstoff): Unterschied zwischen den Versionen

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'''Den iunckfrauen zuo lobe&middot;<br />Das &middot;ix&middot; Capitel'''
'''Den iunckfrauen zuo lobe&middot;<br />Das &middot;ix&middot; Capitel'''


EIn Rosen und auch ein Gilgen dye wuochssen miteina(n)der bey einem feygenbaum&middot; und do der selb feygenbaum ir schoengeferbte pletter die jrer farbe gar lustige warend und süssen taw miltiklich außgusse(n) mit wolriechendem schmack in die weytte  außpraitet&middot; Nu(n) waren doch die rosen un(d) auch die gilgen die sellben zeit außwendiklich jres scheines und jrer plue genczlich un(d) gar beraubt und gruonten beide(n)halben dannocht allein zuo jren summerfrüchten als sy die frau die frey natur kund maysteren und layten&middot; Darnach ward der feyge(n)baum neydiklich erwegt und sprach in hohem muot d(er) Rosen und der gilgen zuo&middot; Sagt mir des bit jch eüch wo seind eür su(m)mer früchtt/ wo sihet man eüer fruchtigs gepern nach so plueenreicher zeit des freüde(n)reiche(n) maien die sich bis her v(er)lauffen hatt wz mag so eitel und so gar vernichtet sein als so sich plu(e) erzayget der doch kei(n) frucht nachvolget/ wa(n)n die natur aller weyßheit maisterin v(er)pindt mit fleyß die frucht in d(er) pluome(n)/ daru(m)be so wirt die mayenreich plue vil ee gesehen und gepüret&middot; Und darnach erst dye frücht verstuonden so gar schnaell das dye straff gefaerlich waz&middot; Un(d) das auch dy entspra(n)g und wuochs auß nediger wurczen&middot; Do sprachen sy züchtiklich/ wir wissen wol das du vo(n) deins geperens wegen das kiczlig an jm selber ist die aller schoenesten pluomen der maegetlichen eren williklich verlorn hast un(d) seyt du der emploeßt bist so redestu aus wz du wilt nach ganczem deym willen/ damit du dein übetmuot<ref>übermuot?</ref> erzaigest&middot; Auch wilttu nit erkennen das uns die pluom die frucht ist&middot; Und dasselb fleüßset aus übertraeffelicher reinikeitte auß suessikeit d(er) weselichen listikeit/ wann unser wesen steett also das an uns beyden die pluomen die frucht un(d) die frücht der pluomer ist und seind dye beyde an in selbs ein ainigs wesen&middot; darumb so ist kein underschayde d(er) frucht unnd auch der pluomen in uns wesenlich/ wa(n)n seyd die gancz feüchtikeit d(er) hoenigsuessen reinikeit und wolriechenden suesikeit überflüssige in uns seynd darumb so seind die beyde dye frucht und auch die pluom ein ainiges wesen&middot; Und dasselb ding sage du uns ob du das wayßt wie der aller reynest und lauterest tunst der auß der erden dringet sich in die plue verschlechte/ und verwandlet&middot; und darjnne(n) wechßt&middot; Und der sueß himeltaw das edel un(d) das scheinreich perlin das schoen in keüscheit leücht verporgenlich adelt&middot; Daru(m)be so mügen wir wol sein die roß auch die gilge(n) gar fruchtig pluome(n) und pluome(n) der frucht&middot; Od(er) haßt du nie gehoert das die tugendtt die unverhalte(n) ju(n)ckfraeulicheitt die allzeit rayn und schmackhafte ist die clarest frucht und pluome mitenand(er) ist hie niden auff d(er) erden und in d(er) hoechsten reich Auch wiß hie&middot; Als wenig ei(n) fruchte on frucht mag sein als wenige mag d(er) saum der junckfraeulichen reinigkeit on samen sein/ wann junckfraeuliche reinigkeyt die ist die frucht auch d(er) saume d(er) tugent und d(er) natur die niema(n)t widerwegen mag&middot; Si ist die hochgültest saum d(er) pringet fruchte die hundertfeltige ist&middot; Sy istt die freüdenreichest pluom und d(er) allerklaerest schein so er in himel und auf erd mage gesehen werden&middot; Sy ist die allersuessest fruchte und ein zier über all zier Sy ist der senfftes geschmache und ein riechen daz in den himel dringet&middot; Sy ist ein krafft unnd ein vermügen daz sich den engelen geleichet&middot; Der ding aller laß dych nymmer wundern seyd sy ist der teürest stain unnd der aller costlichost darzuo istt&middot; In der Monstra(n)cz der tugent und der natur&middot; Sy ist on alles verrucken gancz sy ist die hymlisch hayter&middot; sy ist die höchst mässigkeyt/ sy ist der syg den niemant überwindet&middot; sy ist der geist de(r) de(s) fleysche herzschet&middot; sy ist die er/ sy istt die freüd&middot; sy ist gelück&middot; sy ist sälligkeit und würd&middot; Darumb istt junckfraeulicheit die aller saeligeste heilikeit/ seyt sy ist die pluom mitsampt der frucht als die gilge und rosen ist die des riechens kreftige seind und des scheynes reich. Dz riechen zeühet senftiklichen mit suessen kreften an sich dz stolcz und frei ainhirn wie wil de das an jm selber ist das seyn hochtragender muot und scharpffer zoren gezaempt und getillet wirt&middot; O junckfraeliche reinigkeit wz mag sich dir geleychen Seyd das dz wild einhyrn das muotige ist und zorns vol unnd schnaell on all maß vonn deiner lautern reinikeit genoet un(d) zwu(n)gen wirt das es sich mit ga(n)czer gir in dein schoß beschleüßt&middot; Un(d) darjnn nach seym luft rastet&middot; O saphyr des teüren gelts d(er) wundersamen reinikeit d(er) ayter und das do gift ist wievil des ist zerbricht gewaltiklich&middot; O gruengeferbter schmaragd d(u) immerwerenden reinikeit&middot; Ein lyebhaber d(er) unverruckten keüscheyt d(ie) nit leiden mage der stinckenden unkeusch schwaches werck&middot; Darmit geschwaig der feigenbaum der sich der frucht der er gepare gar üppiklichen geruempt hette und ließ von seinem gloziern
EIn Rosen und auch ein Gilgen dye wuochssen miteina(n)der bey einem feygenbaum&middot; und do der selb feygenbaum ir schoengeferbte pletter die jrer farbe gar lustige warend und süssen taw miltiklich außgusse(n) mit wolriechendem schmack in die weytte  außpraitet&middot; Nu(n) waren doch die rosen un(d) auch die gilgen die sellben zeit außwendiklich jres scheines und jrer plue genczlich un(d) gar beraubt und gruonten beide(n)halben dannocht allein zuo jren summerfrüchten als sy die frau die frey natur kund maysteren und layten&middot; Darnach ward der feyge(n)baum neydiklich erwegt und sprach in hohem muot d(er) Rosen und der gilgen zuo&middot; Sagt mir des bit jch eüch wo seind eür su(m)mer früchtt/ wo sihet man eüer fruchtigs gepern nach so plueenreicher zeit des freüde(n)reiche(n) maien die sich bis her v(er)lauffen hatt wz mag so eitel und so gar vernichtet sein als so sich plu(e) erzayget der doch kei(n) frucht nachvolget/ wa(n)n die natur aller weyßheit maisterin v(er)pindt mit fleyß die frucht in d(er) pluome(n)/ daru(m)be so wirt die mayenreich plue vil ee gesehen und gepüret&middot; Und darnach erst dye frücht verstuonden so gar schnaell das dye straff gefaerlich waz&middot; Un(d) das auch dy entspra(n)g und wuochs auß nediger wurczen&middot; Do sprachen sy züchtiklich/ wir wissen wol das du vo(n) deins geperens wegen das kiczlig an jm selber ist die aller schoenesten pluomen der maegetlichen eren williklich verlorn hast un(d) seyt du der emploeßt bist so redestu aus wz du wilt nach ganczem deym willen/ damit du dein übetmuot<ref>übermuot?</ref> erzaigest&middot; Auch wilttu nit erkennen das uns die pluom die frucht ist&middot; Und dasselb fleüßset aus übertraeffelicher reinikeitte auß suessikeit d(er) weselichen listikeit/ wann unser wesen steett also das an uns beyden die pluomen die frucht un(d) die frücht der pluomer ist und seind dye beyde an in selbs ein ainigs wesen&middot; darumb so ist kein underschayde d(er) frucht unnd auch der pluomen in uns wesenlich/ wa(n)n seyd die gancz feüchtikeit d(er) hoenigsuessen reinikeit und wolriechenden suesikeit überflüssige in uns seynd darumb so seind die beyde dye frucht und auch die pluom ein ainiges wesen&middot; Und dasselb ding sage du uns ob du das wayßt wie der aller reynest und lauterest tunst der auß der erden dringet sich in die plue verschlechte/ und verwandlet&middot; und darjnne(n) wechßt&middot; Und der sueß himeltaw das edel un(d) das scheinreich perlin das schoen in keüscheit leücht verporgenlich adelt&middot; Daru(m)be so mügen wir wol sein die roß auch die gilge(n) gar fruchtig pluome(n) und pluome(n) der frucht&middot; Od(er) haßt du nie gehoert das die tugendtt die unverhalte(n) ju(n)ckfraeulicheitt die allzeit rayn und schmackhafte ist die clarest frucht und pluome mitenand(er) ist hie niden auff d(er) erden und in d(er) hoechsten reich Auch wiß hie&middot; Als wenig ei(n) fruchte on frucht mag sein als wenige mag d(er) saum der junckfraeulichen reinigkeit on samen sein/ wann junckfraeuliche reinigkeyt die ist die frucht auch d(er) saume d(er) tugent und d(er) natur die niema(n)t widerwegen mag&middot; Si ist die hochgültest saum d(er) pringet fruchte die hundertfeltige ist&middot; Sy istt die freüdenreichest pluom und d(er) allerklaerest schein so er in himel und auf erd mage gesehen werden&middot; Sy ist die allersuessest fruchte und ein zier über all zier Sy ist der senfftes geschmache und ein riechen daz in den himel dringet&middot; Sy ist ein krafft unnd ein vermügen daz sich den engelen geleichet&middot; Der ding aller laß dych nymmer wundern seyd sy ist der teürest stain unnd der aller costlichost darzuo istt&middot; In der Monstra(n)cz der tugent und der natur&middot; Sy ist on alles verrucken gancz sy ist die hymlisch hayter&middot; sy ist die höchst mässigkeyt/ sy ist der syg den niemant überwindet&middot; sy ist der geist de(r) de(s) fleysche herzschet&middot; sy ist die er/ sy istt die freüd&middot; sy ist gelück&middot; sy ist sälligkeit und würd&middot; Darumb istt junckfraeulicheit die aller saeligeste heilikeit/ seyt sy ist die pluom mitsampt der frucht als die gilge und rosen ist die des riechens kreftige seind und des scheynes reich. Dz riechen zeühet senftiklichen mit suessen kreften an sich dz stolcz und frei ainhirn wie wil de das an jm selber ist das seyn hochtragender muot und scharpffer zoren gezaempt und getillet wirt&middot; O junckfraeliche reinigkeit wz mag sich dir geleychen Seyd das dz wild einhyrn das muotige ist und zorns vol unnd schnaell on all maß vonn deiner lautern reinikeit genoet un(d) zwu(n)gen wirt das es sich mit ga(n)czer gir in dein schoß beschleüßt&middot; Un(d) darjnn nach seym luft rastet&middot; O saphyr des teüren gelts d(er) wundersamen reinikeit d(er) ayter und das do gift ist wievil des ist zerbricht gewaltiklich&middot; O gruengeferbter schmaragd d(er) immerwerenden reinikeit&middot; Ein lyebhaber d(er) unverruckten keüscheyt d(ie) nit leiden mage der stinckenden unkeusch schwaches werck&middot; Darmit geschwaig der feigenbaum der sich der frucht der er gepare gar üppiklichen geruempt hette und ließ von seinem gloziern


==Miniaturen und gedruckte Bilder==
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Version vom 11. Januar 2022, 10:54 Uhr

Rose, Lilie und Feigenbaum

(Erzählstoff)

Regest Der Feigenbaum fragt Rose und Lilie, warum sie Blüten aber keine Früchte tragen; sie verweisen auf ihre Jungfräulichkeit, in der es keinen Unterschied zwischen Blüte und Frucht gäbe. (Dicke, Gerd/Grubmüller, Klaus: Die Fabeln des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 576)
Fassungen Buch der natürlichen Weisheit (Ulrich von Pottenstein), Nr. IV, 9
Spiegel der wyßheit (Sebastian Münster), Nr. IV, 9, Bl. 81v-82r
Spiegel der natürlichen weyßhait (Daniel Holzmann), Nr. 93, Bl. 295v-298r
Forschung
(s.a. unter Fassungen)
Dicke, Gerd/Grubmüller, Klaus: Die Fabeln des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, S. 576; Günthart, Romy (Hg.): Sebastian Münster, Spiegel der wyßheit, Band 2, S. 134-137


Lateinische Version (Cyrillus, Nr. IV, 9), 1. Hälfte 14. Jhd.

Die deutsche Tradition baut auf einer lateinischen Quelle auf (Cyrillus, Nr. IV, 9 (Grässe, Johann Georg Theodor (Hg.): Die beiden ältesten lateinischen Fabelbücher des Mittelalters. Tübingen 1880, S. 115f.)).

Cyrillus: Speculum Sapientiae[1] Übersetzung[2]

Proverbium ad laudem virginitatis.

Rosa et lilium iuxta ficulneam sunt exortae. Quae cum expandissent floribunda folia nitore splendentia ac rorem suavitatis manantia aromaticique odoris fragrantiam effudissent, et illa floris orbata luce acerbum in fructum pariter pullulasset, lacte quidem invidentiae pruriens, commota mox invectivam proposuit dicens: "Post tam amoenissimam rutilantiam floridam ubi fructus vestri intenta genitura finaliter? Sanum est quippe florere sine fructu. Ligat enim natura sagax fructum in flore et ob ipsum tam vernantissimum germinat in florem." At illae mox radicem eloquii sentientes pacifica ratione dixerunt: "Bene scimus, quod propter pruritum generationis perdidisti gloriam floris et idcirco iam exspoliata es sie loquens; nempe fructum paris dulcissimum, sed tamen pateris in radice pruritum, quo florem amisisti, nobis autem ex plena puritate et suavitate substantiae flos ipse fructus est. Unde in nobis flos et fructus minime distinguitur, quoniam abundante nimis mellitae puritatis et odoriferae sublimitatis humore id ipsum factum est in nobis flos et fructus. Nonne vapor terrae purissimus totum floridum in aurum concrescit et ros dulcissimus caeli virginitate vernante margaritam congemmascit? Igitur rosa et lilium et flores fruetiferi et fructus floridi sunt. An nescivisti, quod virginitatis manantis puritate, aromate et suavitate virtus ipsa clarissimus flos est et fructus? Mirabile igitur germen virginitatis sine germine non est. Nunquam est fructus sine fructu, immo totus et ipse fructus est. Sic et sancta virginitas ipsum naturae et virtutis est germen pretiosissimum, flos amoenissimus et splendor clarissimus, fructus dulcissimus, decor praestantissimus, odor suavissimus, valor totus. Nimirum ipsa est naturae ac virtutis clarissima gemma, inviolata integritas, caelestina serenitas, summa temperantia, perfecta victoria spiritus super germen, gloria tota. Ut rosa igitur fragrans et lilium rutilans est sancta virginitas, flos et fructus, ad cuius quidem fragrantiam unicornis tractus suaviter currit, cuius dulcedine ferocitas mansuescit, cuius puritate eius tam valida delectata potestas quasi victa in nitido gremio virginali reverentialiter prostrata recumbit. O nimirum magnes nimiae validitatis virginitatis ad se trahens naturam! O saphirus mirabilis castitatis omnem fugans et destruens famam veneuosam! O smaragdus rutilans viriditatis, perpetua puritas, inviolatae integritatis amatrix, foetidam Veneris nullatenus patiens corruptelam!" Ad haec ficulnea stupefacta conticuit.

Ein Beispiel zum Lob der Jungfräulichkeit.

Eine Rose und eine Lilie wuchsen neben einem Feigenbaum. Diese hatten ihre Blütenblätter entfaltet, die glänzten und strahlten, über sie rann süßer Tau und sie hatten den Wohlgeruch eines aromatischen Duftes verströmt. Jener aber hatte ohne Blütenglanz zugleich eine unreife Frucht hervortreiben lassen und hielt aufgebracht bald darauf folgende Scheltrede, da er durch den Saft des Neides brannte: "Wo ist schließlich nach solche einem anmutigen Blütenglanz die erstrebte Nachkommenschaft eurer Frucht? Es ist freilich gescheit, ohne Frucht zu blühen. Es bindet nämlich die weise Natur die Frucht an die Blüte, und deswegen treibt sie eine so glänzende Blüte hervor." Aber da jene die Quelle der Rede bemerkten, sprachen sie in friedlicher Absicht: "Wir wissen gut, daß du wegen der Begierde nach Nachkommenschaft die Zierde deiner Blüte verloren hast und deshalb so sprichst, weil du von jetzt an ihrer beraubt bist; du bringst freilich eine sehr süße Frucht hervor, aber dennoch duldest du an der Wurzel die Begierde, wodurch du die Blüte verloren hast; aber aufgrund der vollen Reinheit und Süße unseres Wesens ist die Blüte selbst die Frucht. Daher unterscheidet man bei uns keineswegs Blüte und Frucht, weil bei uns durch den überreich vorhandenen Pflanzensaft von überaus süßer Reinheit und wohlriechender Vorzüglichkeit gerade das zu Blüte und Frucht geworden ist. Verdichtet nicht die reinste Wärme der Erde alles Glänzende zu Gold und läßt nicht der süßeste Tau des Himmels eine Perle in Jugendlichkeit und Jungfräulichkeit entstehen? Daher sind Rose und Lilie sowohl fruchttragende Blüten als auch blühende Früchte. Wußtest du nicht, daß gerade die Tugend der Jungfräulichkeit, die sich mit Reinheit, Wohlgeruch und Süße verbreitet, die edelste Blüte und zugleich Frucht ist? Daher gibt es keinen wunderbaren Sproß der Jungfräulichkeit ohne einen Keim. Niemals gibt es eine Frucht ohne Frucht, sondern im Gegenteil ist die Frucht selbst alles. So ist auch die heilige Jungfräulichkeit selbst der kostbarste Sproß, die anmutigste Blume, der hellste Glanz, die süßeste Frucht, die vorzüglichste Zierde, der lieblichste Duft und der ganze Wert der Natur und der Tugend. Zweifellos ist sie selbst der hellste Edelstein der Natur und der Tugend, unverletzbare Unschuld, himmlische Reinheit, höchste Selbstbeherrschung, vollkommener Sieg des Geistes über den Trieb, vollkommener Ruhm. Wie die duftende Rose und die rötlich schimmernde Lilie ist die heilige Jungfräulichkeit Blüte und Frucht, von deren Duft angezogen das Einhorn sanft herbeiläuft. Durch ihre Süße wird seine Wildheit bezähmt und durch ihre Reinheit legt sich ehrerbietig seine so starke Kraft voll Freude gleichsam besiegt in den glänzenden Schoß der Jungfrau. Oh Magnet von zweifellos außerordentlicher Stärke der Jungfräulichkeit, der du die Natur anziehst! Oh Saphir von wunderbarer Reinheit, der du das ganze giftige Gerede vertreibst und vernichtest! Oh Smaragd, der du von Jugendkraft glänzest, immerwährende Reinheit, Freundin unverletzbarer Unschuld, die du in keiner Weise die schädliche Verführung der Venus duldest!" Auf diese Worte hin verstummte betrübt der Feigenbaum.

Deutsche Versionen

Buch der natürlichen Weisheit (Ulrich von Pottenstein), Nr. IV, 9 (um 1408/16, nach Druck Augsburg, 1490)

Den iunckfrauen zuo lobe·
Das ·ix· Capitel

EIn Rosen und auch ein Gilgen dye wuochssen miteina(n)der bey einem feygenbaum· und do der selb feygenbaum ir schoengeferbte pletter die jrer farbe gar lustige warend und süssen taw miltiklich außgusse(n) mit wolriechendem schmack in die weytte außpraitet· Nu(n) waren doch die rosen un(d) auch die gilgen die sellben zeit außwendiklich jres scheines und jrer plue genczlich un(d) gar beraubt und gruonten beide(n)halben dannocht allein zuo jren summerfrüchten als sy die frau die frey natur kund maysteren und layten· Darnach ward der feyge(n)baum neydiklich erwegt und sprach in hohem muot d(er) Rosen und der gilgen zuo· Sagt mir des bit jch eüch wo seind eür su(m)mer früchtt/ wo sihet man eüer fruchtigs gepern nach so plueenreicher zeit des freüde(n)reiche(n) maien die sich bis her v(er)lauffen hatt wz mag so eitel und so gar vernichtet sein als so sich plu(e) erzayget der doch kei(n) frucht nachvolget/ wa(n)n die natur aller weyßheit maisterin v(er)pindt mit fleyß die frucht in d(er) pluome(n)/ daru(m)be so wirt die mayenreich plue vil ee gesehen und gepüret· Und darnach erst dye frücht verstuonden so gar schnaell das dye straff gefaerlich waz· Un(d) das auch dy entspra(n)g und wuochs auß nediger wurczen· Do sprachen sy züchtiklich/ wir wissen wol das du vo(n) deins geperens wegen das kiczlig an jm selber ist die aller schoenesten pluomen der maegetlichen eren williklich verlorn hast un(d) seyt du der emploeßt bist so redestu aus wz du wilt nach ganczem deym willen/ damit du dein übetmuot[3] erzaigest· Auch wilttu nit erkennen das uns die pluom die frucht ist· Und dasselb fleüßset aus übertraeffelicher reinikeitte auß suessikeit d(er) weselichen listikeit/ wann unser wesen steett also das an uns beyden die pluomen die frucht un(d) die frücht der pluomer ist und seind dye beyde an in selbs ein ainigs wesen· darumb so ist kein underschayde d(er) frucht unnd auch der pluomen in uns wesenlich/ wa(n)n seyd die gancz feüchtikeit d(er) hoenigsuessen reinikeit und wolriechenden suesikeit überflüssige in uns seynd darumb so seind die beyde dye frucht und auch die pluom ein ainiges wesen· Und dasselb ding sage du uns ob du das wayßt wie der aller reynest und lauterest tunst der auß der erden dringet sich in die plue verschlechte/ und verwandlet· und darjnne(n) wechßt· Und der sueß himeltaw das edel un(d) das scheinreich perlin das schoen in keüscheit leücht verporgenlich adelt· Daru(m)be so mügen wir wol sein die roß auch die gilge(n) gar fruchtig pluome(n) und pluome(n) der frucht· Od(er) haßt du nie gehoert das die tugendtt die unverhalte(n) ju(n)ckfraeulicheitt die allzeit rayn und schmackhafte ist die clarest frucht und pluome mitenand(er) ist hie niden auff d(er) erden und in d(er) hoechsten reich Auch wiß hie· Als wenig ei(n) fruchte on frucht mag sein als wenige mag d(er) saum der junckfraeulichen reinigkeit on samen sein/ wann junckfraeuliche reinigkeyt die ist die frucht auch d(er) saume d(er) tugent und d(er) natur die niema(n)t widerwegen mag· Si ist die hochgültest saum d(er) pringet fruchte die hundertfeltige ist· Sy istt die freüdenreichest pluom und d(er) allerklaerest schein so er in himel und auf erd mage gesehen werden· Sy ist die allersuessest fruchte und ein zier über all zier Sy ist der senfftes geschmache und ein riechen daz in den himel dringet· Sy ist ein krafft unnd ein vermügen daz sich den engelen geleichet· Der ding aller laß dych nymmer wundern seyd sy ist der teürest stain unnd der aller costlichost darzuo istt· In der Monstra(n)cz der tugent und der natur· Sy ist on alles verrucken gancz sy ist die hymlisch hayter· sy ist die höchst mässigkeyt/ sy ist der syg den niemant überwindet· sy ist der geist de(r) de(s) fleysche herzschet· sy ist die er/ sy istt die freüd· sy ist gelück· sy ist sälligkeit und würd· Darumb istt junckfraeulicheit die aller saeligeste heilikeit/ seyt sy ist die pluom mitsampt der frucht als die gilge und rosen ist die des riechens kreftige seind und des scheynes reich. Dz riechen zeühet senftiklichen mit suessen kreften an sich dz stolcz und frei ainhirn wie wil de das an jm selber ist das seyn hochtragender muot und scharpffer zoren gezaempt und getillet wirt· O junckfraeliche reinigkeit wz mag sich dir geleychen Seyd das dz wild einhyrn das muotige ist und zorns vol unnd schnaell on all maß vonn deiner lautern reinikeit genoet un(d) zwu(n)gen wirt das es sich mit ga(n)czer gir in dein schoß beschleüßt· Un(d) darjnn nach seym luft rastet· O saphyr des teüren gelts d(er) wundersamen reinikeit d(er) ayter und das do gift ist wievil des ist zerbricht gewaltiklich· O gruengeferbter schmaragd d(er) immerwerenden reinikeit· Ein lyebhaber d(er) unverruckten keüscheyt d(ie) nit leiden mage der stinckenden unkeusch schwaches werck· Darmit geschwaig der feigenbaum der sich der frucht der er gepare gar üppiklichen geruempt hette und ließ von seinem gloziern

Miniaturen und gedruckte Bilder

Buch der natürlichen Weisheit (Ulrich von Pottenstein)

Spiegel der natürlichen weyßhait (Daniel Holzmann)

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Anmerkungen