Classen, Albrecht: Die deutsche Predigtliteratur des Spätmittelalters und der Frühneuzeit im Kontext der europäischen Erzähltradition

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Zitation

Classen, Albrecht: Die deutsche Predigtliteratur des Spätmittelalters und der Frühneuzeit im Kontext der europäischen Erzähltradition: Johannes Paulis ‚Schimpf und Ernst‘ (1521) als Rezeptionsmedium. In: Fabula 44 (2003), S. 209–236

Beschreibung

Der Aufsatz stellt exemplarisch an Schimpf und Ernst (Johannes Pauli) dar, dass die Predigtliteratur des 16. Jahrhunderts in direkter Tradition zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählgut steht.

Inhalt

  • Der enorme Erfolg der Predigtliteratur seit dem Spätmittelalter ist u.a. auch damit zu erklären, dass weltliche Erzählstoffe in die Predigten integriert wurden (211).
  • Besonders das literarische Werk Johannes Paulis erweist sich als Sammelbecken von europäischen Erzähltraditionen (213).
    • Von Ernst das 32. Ein Nar überdisputiert ein Witzigen (218)
      • Der Text hinterfragt die menschliche Erkenntnismöglichkeit und führt das Sprichwort „si tacuisses, philosophus manuisses“ ad absurdum, da der Sprachmeister das Schweigen des Toren als Hinweis auf Klugheit liest (219)
      • Eine der frühesten Vorlagen findet sich in Juan Ruiz‘ Libro de buen amor um 1330, das dieselbe Erzählung bietet (220). Die Auslegung bei Ruiz zielt philosophisch darauf ab, Wahrheit und Lüge sorgsam abzuwägen (221), wobei Pauli seine Version im Epimythion ins politisch-moralische lenkt (das Schweigen der Ratsherren verdeckt ihre Dummheit) (222).
      • Ein weiterer Paralleltext ist Rosenplüts Die Disputation von 1471-73. Rosenplüt erzählt die Geschichte mit Christen und Juden als Kontrahenten, was als Folie antisemitischer Verspottung, aber auch zur Vorführung der Torheit der Christen dient (222-224).
        • Während Paulis Kritik sich schlicht gegen törichte Ratsherren richtet, kritisiert Rosenplüt beide Seiten der Disputation (224)
    • Von Schimpff das 224. Von der Frawen Gangolfi
      • Die früheste literarische Vorlage für diesen Schwank findet sich in den Verslegenden von Hrotsvitha von Gandersheim (225), die Pauli wahrscheinlich im Druck von 1501 kennenlernte (226). Hrotsvitha führt die Gangolf-Legende breit biographisch aus, während Pauli den Stoff prägnant rafft (226). Ggf. hat Pauli auch auf die Fassung der Gangolf-Legende in den Legenda aurea zurückgegriffen (227).
    • Von Ernst das 228. Der Koler sach ein Frawen
      • Die Vorlage dieses Schwanks ist die Erzählung 5,8 aus Boccaccios Decamerone (228), wo die Geistererscheinung dazu genutzt wird, um den Helden zur Heirat zu verhelfen. Bei Pauli dagegen dient sie dazu, vor Ehebruch zu warnen (229).
    • Von Ernst das 256. Keiser Otto was am Ostertag gech
      • Pauli bezieht sich hier auf eine im Hochmittelalter vielfach überlieferten Anekdote, wobei die Fassung Heinrich von Kempten (Konrad von Würzburg) die bekannteste ist (230). Pauli fokussiert sich raffend ganz auf den einleitenden dramatischen Konflikt und zieht daraus die Lehre der Wichtigkeit von Geistesgegenwart (231).
    • Von Schimpff das 434. Der Hund verriet ein Mörder
      • Hier bedient sich Pauli bei dem Prosaroman Königin Sibille von Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, wobei der Schwerpunkt in beiden sehr verschiedenen Versionen auf der absoluten Treue des Hundes liegt, die über den Tod seines Herren hinausgeht (232).
      • Dieses Motiv hat Pauli auch beim Schwank Von Schimpff das 423. Einer bracht sein grösten Feind übernommen (233).
  • Pauli erweist sich mit seinen Rückgriffen auf mittelalterliche Erzähltraditionen und in seinem Weiterwirken als „ein bedeutsamer literaturhistorischer Brückenkopf zwischen Antike und Frühneuzeit“ (235).