Petsch, Robert: Märchen und Sage, Lied und Epos
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Zitation
Petsch, Robert: Märchen und Sage, Lied und Epos. In: Gesamtverein der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 58 (1910), Sp. 177-184 (online)
Beschreibung
Beitrag zur Sage im Vergleich zum Märchen.
Inhalt
bislang erfasst ist lediglich die Passage zur Geisterkirche (Erzählstoff).
- „Über den bald hilfreichen, bald tückischen Mächten, die in der Natur ihr Wesen treiben, lagert seit der Einführung des Christentums ein schwermütiger Hauch; die Spuk- und Quälgeister sind z. T. verdammte Seelen, aber auch der gute Neck weint bittere Tränen, weil er des Heils nicht teilhaftig werden kann. […] Ein so starker Stimmungsgehalt aber drängt auch der rein gegenständlichen Sage schließlich ein novellistisches Gepräge auf. Motive schließen sich zusammen und führen in dieser Verflechtung ihr selbständiges Leben wie das Märchen, nur daß sie, um sich irgendwo anzusiedeln, einen konkreten Anhaltspunkt brauchen. Als Beispiel verweise ich auf die weit verbreitete Sage von der Geisterkirche. Wohl mag ein bestimmter Anlaß ihren epischen Kern erzeugt haben, allmählich aber flatterte die Sage wie ein Märchen von Mund zu Mund und ward an manche, irgendwie stimmungsvoll wirkende Kirche angeschlossen, damit man einen Vorwand habe, sie zu erzählen. Eine Person im Dorfe, meist eine Frau, erwacht zur Winterszeit vor Tagesanbruch, sieht die Kirche erleuchtet und eilt, um [181] die Frühmesse zu hören, ins Gotteshaus, aus dem ihr Gesang entgegenschallt; am Altar aber amtiert ein Priester, den sie nicht kennt. auf den Bänken sitzen Personen in altmodischen Gewändern, unter denen sie einige längst Verstorbene wahrnimmt. Sie hört die Messe mit an, ein Nachbar warnt sie vor längerem Bleiben. Sie hat gerade noch Zeit, zu entfliehen, denn sobald die Messe beendet ist, stürzt die geheimnisvolle Gemeinde hinter ihr her, die Tür schlägt dröhnend ins Schloß und klemmt ihre Schürze ein, die sie am andern Morgen, in tausend Fetzen zerrissen, auf den Gräbern verteilt findet. – Die Sage ist fest in sich geschlossen, ein kleines Kunstwerk, das als solches Gefallen erweckte und weiter getragen wurde. In der Rettung der Heldin durch den freundlichen Nachbar zeigt sich bereits ein Übergang zu einer optimistischen Wendung der an sich gruseligen Sage, wodurch ihre reine ästhetische Wirkung erleichtert wird. Ich halte derartige Sagengebilde für die Übergänge zum eigentlichen Märchen, die nun gar keinen exoterischen Zweck mehr haben oder je gehabt haben und, wenn sie an bestimmte Personen oder Gegenstände anknüpfen, nur die Spannung erhöhen wollen.“ (180f.)