Der eigensinnige Spötter (Der Stricker)

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Der eigensinnige Spötter

AutorIn Der Stricker
Entstehungszeit ca. 1220-1250 (Malm, Mike: Der Stricker, S. 369)
Entstehungsort Ostfränkisch/Rheinfränkisch, Österreich? (Malm, Mike: Der Stricker, S. 369)
AuftraggeberIn
Überlieferung Wien ÖNB: Cod. 2705, 101va-102vb [1]
Heidelberg, UB: Cpg 341, 197vb-199ra [2]
Genève-Cologny, Bibliotheca Bodmeriana: Cod. Bodmer 72, 198vb-200rb [3]
Rom, Bibliotheca Apostolica Vaticana: Reg. Lat. 1423, 9r-13v
München, UB: 2° Cod. ms. 731, 81ra-82va [4]
Melk, Bibliothek des Benediktinerstiftes: Cod. 1547, 13-21 [5]
Cologny-Genéve, Bibliothek Bodmer: Cod. Bodmer 155, 22ra-23vb [6]
Wien, ÖNB: Cod. 2884, 133rb-134vb
München, BSB: Cgm 273, 138rb-140rb
Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Hs. St. Georgen 86, 60v-64r [7]
Ausgaben Moelleken, Wolfgang Wilfried (Hg.): Die Kleindichtung des Strickers, Band 4, S. 227-240
Übersetzungen
Forschung Böhm, Sabine: Der Stricker, S. 29; Nowakowski, Nina: Aporien des Agonalen; Nowakowski, Nina: Sprechen und Erzählen beim Stricker, S. 24, 57, 187-195; Ziegeler, Hans-Joachim: Erzählen im Spätmittelalter, S. 19, 21, 136, 138, 143, 152, 157, 160, 169f., 472f., 506

Inhalt

Narratio

Ein überaus tugendreicher Mann und ein vebel spotter (4) (im folgenden als "Spötter" bezeichnet, obwohl diese Übersetzung nicht treffend ist; "Streithammel" z.B. wäre passender) reden miteinander. Der Spötter hat die Gewohnheit, in einem Streit, den er einmal angefangen hat, nie nachzugeben. Er behauptet, er habe sogar schon Menschen deswegen erschlagen. Der Gute mahnt ihn, nicht durch Morde wegen solcher Geringfügigkeiten sein Seelenheil aufs Spiel zu setzen. Der Spötter glaubt, auch der Gute werde sich wehren. Dieser hingegen meint, er habe schon so viel Leid ertragen und doch keinem anderen deswegen etwas angetan. Der Spötter bietet eine Wette: Er werde ihm ein Hirsekorn an die Kleider werfen. Ein Pfund setze er dafür, dass auch der Gute dann in großen Zorn gerate. Der Gute glaubt, dass er auch das erdulden werde. - Der Spötter kauft ein Schüssel voll Hirse und bewirft den Guten zu jeder Tag- und Nachtzeit ohne Unterbrechung mit einem Hirsekorn, wo immer der Gute ist, was immer er auch tut. Als die Leute davon hören, entsteht um die beiden stets großes Gedränge, und der Gute bittet den Spötter, sein Tun zu lassen. Der Spötter meint, der Gute sei so sanft, er werde doch nicht ungeduldig wegen solcher Geringfügigkeit. Der Gute weist darauf hin, dass noch so kleines Leid mit der Zeit unerträglich auch auch für einen Guten werde. Der Spötter habe es so weit getrieben, dass das Leid nun so groß geworden sei, auch wenn er es nicht glauben wolle. Der Spötter wirft trotzdem ohne Unterlass weiter. Der Gute holt sein Schwert und versetzt dem Spötter damit einen Schlag, dass er aufhören muss zu werfen. Als er wieder gesund ist, setzt er sein Tun fort und wird zwei weitere Male geschlagen. Als er auch danach sofort wieder zu werfen beginnt, erschlägt ihn der Gute, so dass er endgültig mit dem Werfen aufhören muss.

Epimythion

Es gibt einen, der gut ist und so ungern zornig wird, dass er, wenn er einmal zürnt, unvergleichbar in seinem Zorn ist. Gott ist so gütig, aber wie groß seine Güte auch ist, wer zu sehr auf sie baut und glaubt, allzulange sündigen zu dürfen, wird nirgends strengere Vergeltung finden. Gott hat viele Spötter, die alle Tage sündigen und meinen, das sei lässlich. Es gibt Kluge darunter, die sich ändern; wenn sie Gott einmal straft, bessern sie sich und verdienen sich Gottes Güte. Der Törichte aber ist und bleibt töricht, wie sehr ihn Gott züchtigt, er bessert sich nicht um ein Haar. Er behauptet, Gott sei gnädig und handelt weiter wie der, der sein Werfen nicht lassen wollte. Wie klein die Schuld auch war, die Vergeltung war der Tod. Wer sich gegen Gottes Gnade vergeht, ist kindischen Verstands; er erwirbt sich ohne Not den Tod wie der, der durch den Guten starb. Wenn mir jemand ein noch so keines Leid zufügt, auf die Dauer wird es mir zur größten Last. - Alle sollen daran denken: Wie klein eine Sünde sein mag, wer sie ständig begeht, soll sich ansehen, wie schwer sie wird, wenn man sie häufig und lange begeht. Es sei Mann oder Frau, wer sich vor den großen Steinen bewahren kann, hüte sich auch vor den kleinen. Wenn einer im Sande ertrinkt, so ist die Schande größer, als wenn ihn ein Berg erschlägt. Der Sand ist so leicht, man legt ihn einfach auf einen Wagen, bis der ihn dann nicht mehr tragen kann. Wie weit verstreut auch der Regen fällt, Gott sammelt alle Tropfen, bis dort ein Strom fließt, wo vorher kein Wasser war. Genauso wird über die kleinen Sünden Buch geführt. Wie klein die Sünden auch sind, sie ein Mensch ohne Reue begangen hat, Gott sammelt sie und macht eine einzige Sünde daraus, die so groß und schwer ist, dass sie für den armen Sünder wie ein Berg und nicht mehr lässlich ist.

(Ziegeler, Hans-Joachim: Erzählen im Spätmittelalter, S. 472f.)