Ragotzky, Hedda: Die 'Klugheit der Praxis' und ihr Nutzen

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Zitation

Ragotzky, Hedda: Die Klugheit der Praxis und ihr Nutzen. Zum Verhältnis von erzählter Geschichte und lehrhafter Fazitbildung in Mären des Strickers. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 123 (2001), S. 49-64

Beschreibung

Hedda Ragotzky bemisst, unter Fokussierung des Verhältnisses von erzählter Geschichte und Formen der Fazitbildung, die Qualität der Epimythien in den Mären des Strickers.

Inhalt

  • Eine Gattung Märe (49-50)
    • Grubmüller, Klaus: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte postulierte, dass Motivkorrespondenzen und Handlungsparallelen in Mären des Strickers, des Kaufringers und Rosenplüts eine "historische Gattungspoetik" begründeten.
    • Es ist fraglich, ob die Geschichten des Strickers als traditionsstiftende Repräsentanten einer Gattung Märe gelten können.
    • Nach Grubmüller umkreisen die Mären des Stricker Ordnungs-Verstöße und darauffolgende Bestrafungen zur Restitution des ordo. Deshalb kann die Belehrung als Gattungsziel gelten.
  • Der begrabene Ehemann (Der Stricker) (52-55)
    • Es zeigt sich die charakteristische narrative Struktur von Mären: Die normative Balance von Rollen wird durch Handlung einer Figur bedroht, die Anforderung an die Rolle einer Figur wird auf die Probe gestellt und das Epimythion fungiert als Urteilsspruch über Versagen.
    • Das Epimythion ist sprachlich kohäsiv gestaltet, indem die Zeitform beibehalten, aber auf Verallgemeinerung sowie auf Sentenz und Aufforderung an die Rezipienten verzichtet wird.
    • Stattdessen zeigt sich das Epimythion als knappes, handlungsbezogenes Fazit mit implizitem Verbindlichkeitsanspruch. Jedoch ist der Urteilsspruch vom Erzähler nicht wertfrei formuliert.
    • Zwei Funktionen des Epimythions kann Ragotzky festmachen.
      • Das Epimythion dient als Schlüssel zur Erkenntnisleistung der erzählten Geschichte.
      • Das Epimythion erschließt einen äußeren Diskussionshorizont.
  • Der junge Ratgeber (Der Stricker) (55-57)
    • Dass Epimythien in abweichenden Formen vorliegen können, zeigt sich in der Überlieferung des jungen Ratgebers in der "Disciplina Clericalis" des Petrus Alphonsi und der des Strickers.
    • Ein innerhalb der Erzählstruktur entwickelter Bewertungsmaßstab wird im Epimythion zum Maß des Urteils über das Versagen der Herren. Jedoch ist die Lehre anders als in Der begrabene Ehemann (Der Stricker) nicht linear, sondern bewegt sich hin und her, sowohl sprachlich durch den Tempuswechsel als auch erzählerisch durch das Beleuchten des Handelns gegenüber biderben und boesen. Das Epimyhtion zeigt eine Möglichkeit der Funktionalisierung des Märe.
  • Edelmann und Pferdehändler (Der Stricker) (57-58)
    • In diesem Märe wird das sehr lange Epimythion ähnlich der Bispel hinsichtlich Personen und deren Handlungen mit der zeitgenössischen Gesellschaft in Beziehung gesetzt ("Prozeß des gelîchens"). Es zeichnet sich zwar durch die ablesbare Handlungsanweisung zudem eine starke Tendenz zur Spruchdichtung ab, trotzdem wird das Epimythion letztlich durch die Mären-konforme Verurteilung von Torheit geschlossen.
  • Die Martinsnacht (Der Stricker) (58-59)
    • Die charakteristische Erzählstruktur der Mären des Stricker wird eingehalten.
    • Der lehrhafte Impuls ähnelt einer Zechrede. Diese ist durch ihre Qualität keiner moralischen Fazitbildung angemessen. Es zeichnet sich über die Warnung hinaus kein lehrhafter Charakter ab.
  • Die drei Wünsche (Der Stricker) (59-60)
    • Durch die Überschneidung der Gattungen zeigt sich auch an diesem Epimythion, was insbesondere in der Analyse in Sowinski, Bernhard: Die drei Wünsche des Stricker sichtbar wird.
    • Nach einem Rückgriff auf Handlung und zeitgenössische Gegenwart wird im Epimythion stark abstrahierend die Torheit behandelt - in einem solchen Maß abstrahiert, dass diese beinahe losgelöst von der Geschichte betrachtet wird. Dabei finden sich in der Moralisation Anlagen an Aristoteles, Freidank und Heinrich von Müdeln.
    • Dieses längste Epimythion bietet anhand der Toren-Typologie auch eine ordo-Erläuterung und erinnert an einen Traktat.
  • Der Richter und der Teufel (Der Stricker) (60-62)
    • In diesem Märe ergibt sich eine inhaltliche Lücke zwischen Geschichte und Epimythion, da der erzählerisch passiv und rechtsbewusst beschriebene Teufel der Warnung vor dessen Verführungskünsten widerspricht.
    • Ein Anspruch christlicher Lehrtradition allein kann diese Diskrepanz nicht erklären. Vielmehr macht Ragotzky die Ironie in der Geschichte für die Diskrepanz verantwortlich.
    • Das Epimythion bezieht sich somit weniger auf den Teufel als auf die Handlungsweisen des Richters.
  • Frühe literarische Orientierungsleistung durch Widersprüche? (62-64)
    • In (Schwank)Mären gibt es typusgerechte Abwandlungen der Epimythien, da sie über Unterschiedliches belehren sollen. Da sie zudem von außen zur Geschichte hinzukommen, entsteht ein Spannungsverhältnis. Dieses Spannungsverhältnis wird vom Erzähler genutzt, um dazu anzuregen, über das Wie des richtigen Handelns nachzudenken.
    • Im Epimythion werden zwar Handlungsaspekte selektiv aufgegriffen, aber der aufgerufene diskursive Kontext wird gebündelt und gelenkt.
    • Als frühe Gattungsvertreter erweisen sich die Mären des Strickers hinsichtlich der Abwandlungen von Moralisierungspraxis innovativ. Allerdings ist eine Annahme gattungspoetologischer Normen durch den Stricker mit Vorsicht zu behandeln.
    • Sie sind zudem nicht rein didaktisch hinsichtlich der Einhaltung/Verletzung des ordos auslegbar. "Konstitutiv für diese Geschichten ist vielmehr die Frage nach dem "Wie" des Handelns, nach einer Handlungsfähigkeit unter Bedingungen, angesichts derer das einfache Befolgen von ordo-Regeln gerade in die Sackgasse führt, die es nicht erlauben, wîsheit problemlos umzusetzen." (63)

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